piwik no script img

Minderjährige Flüchtlinge in BerlinAuf sich allein gestellt

Minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Berlin kommen, müssen eine besondere Betreuung erhalten. Die Realität sieht anders aus.

Verbirgt sein Gesicht aus Angst vor Konsequenzen für seine Angehörigen in der Heimat: 17-jähriger Flüchtling. Foto: dpa

Berlin taz | Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge bekommen derzeit in Berlin nicht den Schutz und die Betreuung, die ihnen vom Gesetz her zustehen. „Zur Zeit kann kein Regelwerk eingehalten werden“, sagt Stephan Guerra, pädagogischer Leiter bei Evin e. V. „Die Situation ist desperat.“ Der Verein betreut bereits seit 20 Jahren jugendliche Flüchtlinge. „Die Bundesregierung hat die Konvention für Kinderrechte unterschrieben“, sagt Guerra, „doch der Kinderschutz kann nicht mehr gewährleistet werden.“

Auch andere Jugendhilfeträger beklagen, dass Standards im Umgang mit dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe nicht mehr eingehalten werden. Und Katrin Möller, die jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, erklärt, mehr als tausend Jugendliche würden in „einer Warteschleife festhängen“.

Eigentlich werden junge Flüchtlinge, die allein in Berlin ankommen, in einer besonderen Unterkunft aufgenommen. Ein bis zwei Tage später haben die Jugendlichen einen Termin bei der Senatsverwaltung für Jugend. Wer bei diesem Gespräch als minderjährig eingestuft wird, durchläuft danach ein sogenanntes Clearingverfahren.

Stark steigende Zahl

Alles ist besser als Langeweile. Die macht krank

Jaafar M., 17 Jahre alt

Doch auch die Zahl der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge ist rasant gestiegen (siehe Kasten). Seit Juli sind die etwa 110 Plätze in der Erstunterkunft fast immer komplett belegt. Die Jugendlichen werden deswegen in Notunterkünften untergebracht, wo Sozialarbeiter sie ambulant betreuen. Und zwar viel länger als eigentlich vorgesehen: Derzeit in Berlin ankommende Jugendliche müssen bis Mai oder Juni auf ihren Termin bei der Senatsverwaltung warten.

So lange ist ihr rechtlicher Status unklar: Die Senatsverwaltung nimmt sie lediglich „vorläufig“ in Obhut – da ja nicht offiziell klar ist, ob sie noch unter 18 Jahre alt sind. Sie bekommen in dieser Zeit lediglich einen Euro Taschengeld am Tag. Hinzu kommt: Minderjährige Flüchtlinge sind schulpflichtig. Doch wie viel Deutschunterricht sie bekommen, liegt im Ermessen der Betreuer.

Der 17-jährige Jaafar M. aus Damaskus ist vor etwas mehr als einem Jahr allein in Berlin angekommen. Er bekam einen Platz in der Erstaufnahmestelle für minderjährige Flüchtlinge und durchlief ein strukturiertes Clearingverfahren. In diesem in der Regel dreimonatigen Prozess klären SozialarbeiterInnen in mehreren Schritten die Situation minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge: Sind sie gesund? Brauchen sie besondere psychologische Betreuung, weil sie vielleicht traumatisiert sind? Wie ist ihr Entwicklungsstand? Welche Schulbildung haben sie bereits? Können Familienangehörige erreicht werden? Die SozialarbeiterInnen suchen außerdem nach der passenden Wohnform und Ausbildungsmöglichkeiten und entwickeln zusammen mit den Jugendlichen eine Perspektive für die Zukunft. Das Verfahren endet mit der Bestellung eines Vormunds.

Jaafar M., der eigentlich anders heißt, kam nach dem Clearing auf eine Sekundarschule. Er lebt nun in einer betreuten Wohngruppe, wo er weiter im Rahmen der Jugendhilfe begleitet wird. M. hat schnell Deutsch gelernt und im Sommer die 9. Klasse mit der Berufsbildungsreife abgeschlossen. Dieses Schuljahr ist der Mittlere Schulabschluss dran. „Mathe, Physik und Chemie sind meine Lieblingsfächer, die Sprachen sind schwerer“, erzählt er, und seine Augen leuchten, wenn er lächelt. „Aber ich möchte gern Pilot werden, dafür ist Mathe wichtig.“ Sein Betreuer lobt, wie motiviert und lernbegierig Jaafar M. sei.

M. erinnert sich an seinen ersten Monat in Berlin, als er nur zwei Stunden Deutschunterricht am Tag hatte und es ansonsten nichts zu tun gab: „Schule macht Spaß. Alles ist besser als die Langeweile. Die macht krank im Kopf.“

Jetzt heißt es Warten

Vor Kurzem, ein Jahr nach Jaafar M., ist sein Cousin in Berlin angekommen. Auch er ist noch minderjährig, auch er ist allein geflohen. „Morgen gehe ich mit ihm zur Erstaufnahmestelle“, sagt Jaafar M. Sein Betreuer nickt und guckt ihn an. „Du bist zu einer Zeit angekommen, als es noch leichter war“, sagt er dann. „Für deinen Cousin wird vieles anders laufen.“

Derzeit werden viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vom Senat übergangsweise in Hostels, Jugendherbergen und Jugendgästehäusern untergebracht, wo Sozialarbeiter sie tagsüber ambulant betreuen. Der 16-jährige Ali S. aus Syrien, der Ende August in Berlin ankam, hat die letzten Monate in einem Hostel gelebt. „Vormittags haben wir eine Stunde Deutschunterricht bei den Betreuern“, berichtet S., der ebenfalls einen anderen Namen trägt. Viel mehr Programm gibt es nicht. Schon ein ganzes Jahr war Ali S. nicht mehr in einer richtigen Schule.

Sozialarbeiter Guerra sieht keine schnelle Lösung für die Misere. Er wisse nicht mehr, wen man für die Missstände verantwortlich machen und an wen man seine Kritik richten solle, sagt er. „Den Landesjugendämtern bleibt nun nur noch, das Chaos zu managen und den Etat zu verwalten“, sagt er. Dem Senat könne man durchaus den Vorwurf machen, dass er sich entschieden dagegen gewehrt habe, rechtzeitig Angebote zu schaffen, wie es von Jugendhilfeträgern immer wieder gefordert worden war. „Wenn da Schritt für Schritt Plätze aufgebaut worden wären, wäre es jetzt entspannter.“

Was in den Hostels passiert, ist ganz unterschiedlich. Teilweise läuft dort schon das Clearingverfahren an. Guerra erzählt, dass das Verfahren zum Teil auf drei bis vier Wochen verkürzt werde. Das sei problematisch: „Die Jugendlichen kommen nicht zur Ruhe“, sagt er. „Viele sind anfangs unauffällig und funktionieren erst mal. Erst nach einiger Zeit zeigen sich die Belastungen.“

Wer während des Wartens auf den Termin mit der Jugendverwaltung 18 Jahre alt wird, ist nicht mehr in der Obhut des Senats und muss sich wie erwachsene Flüchtlinge beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) registrieren lassen. Eine Folge: noch mehr Verantwortung für sich selbst und noch weniger Betreuung. Da sich diese Fälle derzeit stark häufen, werde nach einer neuen Übergangsregelung gesucht, erklärt die Senatsverwaltung. Seit Anfang November leitet die einstige Bausenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) den neuen Koordinierungsstab für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Der Stab bemühe sich darum, die Zeit zwischen Ankunft und Beginn des Clearings zu verkürzen, sagt sie.

In der Jugendhilfe gibt es kaum Einrichtungen, die auf Flüchtlinge spezialisiert sind. „Flüchtlinge brauchen etwas anderes – und sie brauchen mehr als deutsche Jugendliche“, berichtet Guerra. „Wir betreuen zurzeit auch einen 17-jährigen Jungen, der gegen den sogenannten IS gekämpft hat.“ Dieser Jugendliche trete ganz anders auf als die meisten seiner Altersgenossen und akzeptiere kaum andere Autoritäten.

Besondere Betreuung

Die Mitarbeiter der Jugendhilfe für Flüchtlingskinder brauchen nicht nur besondere Erfahrung in der psychosozialen Betreuung. „Man muss sich auch mit Fristen auskennen. Gerade bei Flüchtlingen kann man da viel falsch machen“, sagt Guerra und spricht davon, dass sich Folgen für das Aufenthaltsrecht oder den Status teilweise erst ein oder zwei Jahre später zeigen.

Ab dem kommenden Jahr gilt bundesweit eine neue Regellung: Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge sollen nicht dort bleiben, wo sie ankommen, sondern auf die Bundesländer verteilt werden. „Eigentlich sollte die Überlegung, wo die Jugendlichen gut aufgehoben sind – zum Beispiel auf dem Land oder in der Stadt –, erst das Ergebnis des Clearings sein“, sagt Guerra. „Wir diskutieren hier in Berlin, wie wir die Standards unter den jetzigen Bedingungen noch halten können. Wenn jetzt andere Bundesländer Jugendliche aufnehmen müssen, die keine Erfahrungen in dem Bereich haben, frage ich mich, ob sie diese Standards von Anfang an überhaupt einführen können.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Na ja, das ist auch eine der Folgen, die sich zwangsläufig ergeben mussten, wenn nur auf das "Wir schaffen das" gesetzt wird, ohne genügend finanzielle und personelle Ressourcen, geschweige denn ein umfassendes Integrationskonzept zur Verfügung zu stellen.