Militante: Forschen ist strafbar
Einer der vier unter Terrorismusverdacht Verhafteten ist der Soziologe Andrej H. An der Humboldt-Universität forscht er zur Verdrängung von Mietern. Das wird ihm nun zur Last gelegt.
Am Mittwochabend sollte Andrej H. im Berliner Bezirk Friedrichshain einen Vortrag halten. Das Thema: Die neuerdings wieder steigenden Mieten in der Hauptstadt und die Gefahr einer Verdrängung der Mieter. Für solche Fragen ist der 1970 in Leipzig geborene H. ein Experte. Vor drei Jahren promovierte der Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität zum Thema "Machtverhältnisse in der Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin".
Seinen Vortrag konnte H. nicht halten. Denn zu diesem Zeitpunkt befand er sich schon auf dem Weg zur Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Inzwischen wurde wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung Haftbefehl erlassen. Zur Begründung heißt es, eine von H. "veröffentlichte wissenschaftliche Abhandlung enthält Schlagwörter und Phrasen, die in Texten der 'militanten gruppe' ebenfalls verwendet werden. Die Häufigkeit der Übereinstimmung ist auffallend und nicht durch thematische Überschneidungen erklärlich."
Am Institut für Stadt- und Regionalsoziologie, wo H. arbeitet, ist man entsetzt. "Das ist doch vollkommen abstrus", sagt die Wissenschaftlerin Christine Hannemann. Tatsächlich ist Gentrification, also die Aufwertung von Wohnvierteln und die Verdrängung von Mietern, an der Humboldt-Universität ein Forschungsschwerpunkt, mit dem sich auch der Lehrstuhlinhaber Hartmut Häußermann beschäftigt. Ein entsprechendes Gutachten von ihm über den sozialen Zerfall von bestimmten Stadtteilen führte im Jahr 1999 zur Einführung eines so genannten Quartiersmanagements durch den Berliner Senat.
Doch nicht nur Andrej H. wird die Forschung zu Gentrification von den Karlsruher Ermittlungsbehörden zur Last gelegt. "Als promovierter Politologe", heißt es über einen weiteren Beschuldigten, sei dieser "intellektuell in der Lage, die anspruchsvollen Texte der 'militanten gruppe mg' zu verfassen". Zudem stünden "ihm als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der militanten gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen". Die Berliner und Leipziger Wohnung des Politologen, der sich derzeit im Urlaub befindet, wurde ebenfalls durchsucht, ein Haftbefehl wurde allerdings nicht erlassen.
Andrej H. hingegen wird zur Last gelegt, sich im Februar und April zweimal mit einer der drei Personen getroffen zu haben, die in der Nacht zum Dienstag wegen eines Brandanschlags in Brandenburg (Havel) festgenommen wurden. "Obwohl die Bundesanwaltschaft selbst einräumt, dass sie nicht weiß, worum es bei diesen Treffen ging, wird hier ein Terrorismusverdacht konstruiert", sagt seine Anwältin Christina Clemm. "Das ist eine neue Qualität."
Dass H., der mit seiner Freundin und zwei Kindern in Berlin-Mitte lebt, die Ergebnisse seiner Forschungen auf Diskussionsveranstaltungen - auch der linken Szene - zur Verfügung stellt, ist nichts Neues. Vor kurzem erst hat er in Berlin-Neukölln an einer Podiumsdiskussion teilgenommen, bei der es um die Frage ging, ob der Zuzug von Studenten bald ähnliche Mietsteigerungen hervorbringt wie nach der Wende in Prenzlauer Berg. Gegenwärtig arbeitet H. an einem Forschungsschwerpunkt zur Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände. Zumindest dieses Thema hat die militante gruppe noch nicht aufgegriffen. Der Berliner Senat dagegen schon. Er hat inzwischen weitere Verkäufe von Wohnungsunternehmen ausgeschlossen.
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