Migrationsziel Spanien löst Italien ab: Sichere Ankunft, unsichere Zukunft
Die Menschen kommen übers Meer. Damián Malia holt sie mit seinem Rettungsboot an Land. Sie landen in Aufnahmezentren. Dann verschwinden sie.
Der 20-jährige Mann aus Guinea braucht eine Weile, um sich an den Ort zu erinnern, an dem er im April diesen Jahres Europa erreichte. Almería, 400 Kilometer weiter östlich, an der Mittelmeerküste. Es war das Ende einer achtmonatigen Irrfahrt durch Afrika. „Jetzt muss ich von hier aus meinen Weg weiterfinden“, sagt Diallo und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche.
Amadou Diallo stammt aus der Minenregion Boké. Dort begann er eine Ausbildung zum Ingenieur, erzählt Diallo. Als das Geld ausging, verdingte er sich in Katougouma, einer Bauxitmine der SMB, einem internationalen Joint Venture unter chinesischer Führung. Schutzmaßnahmen gegen den Staub habe es keine gegeben, zwei unbezahlte Überstunden pro Tag seien normal gewesen. Wer krank wurde, bekam kein Geld. „Das war unmenschlich“, sagt Diallo, darauf habe er zusammen mit anderen Arbeitern einen Streik organisiert.
In Katougouma wurden Straßen blockiert, Reifen brannten. Die Polizei habe ihn und andere verhaftet. Weil Diallo zur Volksgruppe der Fulbe gehört, die in Dauerzwist mit den machthabenden Malinké liegen, sei sein Fall zum Politikum geworden, so Diallo. „Irgendwann haben sie dann die Wache gestürmt und ich bin abgehauen.“
„Ich hatte nichts zu verlieren“
Sein Weg führte zunächst über Mali und Niger nach Algerien, aber dort fand er keine Zuflucht. Zwei Mal habe ihn der Grenzschutz zurück nach Niger gebracht. Dann kam er auf die Idee mit Europa. Fünf Monate habe er in Marokko verbracht, sich bei einem Markthändler in Casablanca verdingt. Dort erzählten ihm andere von Nador, der Hafenstadt im Westen, von der täglich Schlauchboote über das Mittelmeer starten würden. „Ich hatte ja nichts zu verlieren“, sagt er mehr beiläufig als resigniert. Geld für die Überfahrt habe er keines mehr gehabt, aber irgendwann im Morgengrauen sei es ihm gelungen, sich unter eine Gruppe von 30, 40 Leuten zu mischen, die von den Schleusern auf ein Schlauchboot gesetzt wurde.
Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.
„Zuerst hatte ich Angst, dass mich jemand entdeckt, dann dass das Boot untergeht.“ Er erinnert sich an das Tuckern des Motors, das besorgte Gemurmel, die Panik, die in ihm aufstieg, wenn die Wellen die Außenseiten nach unten drückten. Und an die Erleichterung, als nach vier Stunden jemand den Helikopter der spanischen Seenotrettung sichtete, der über ihnen kreiste.
Leiter einer Aufnahmeeinrichtung
Eine halbe Stunde später tauchte das orangefarbene Schiff des Salvamento Marítimo auf. „Wenn sie nicht gekommen wären, hätte das in einer Katastrophe geendet“, erzählt Diallo. „Das Boot war schon halb voll mit Wasser.“ Er nimmt noch einen Schluck aus der Wasserflasche, verschwindet dann zwischen den hohen Häuserblocks von Cádiz.
Schon über 27.000 Flüchtlinge in diesem Jahr
Über 27.000 Menschen hat die spanische Seenotrettung in diesem Jahr aus dem Wasser gezogen, fast alle kamen wie Amadou Diallo über die Meeresenge von Gibraltar oder das östlich davon gelegene Alborán-Meer. Vom „Ansturm auf Europas Tor im Süden“ schrieben die Zeitungen, von einem „zweiten Lampedusa“ war die Rede. Damián Malia lacht höhnisch, wenn er solche Schlagworte hört. Der Kapitän des Rettungskreuzers „Salvamar Gadir“ leistet Dienst am Hafen von Barbate. „Ich fahre an sieben Tage in der Woche raus, wegen der pateras, der Flüchtlingsboote. Genau das gleiche habe ich auch schon letztes Jahr gemacht.“
Seit 12 Jahren arbeitet der hagere der Mittsechziger mit den kurzen grauen Haaren für die staatliche Seenotrettung. Die Journalisten auf der Suche nach einem „zweiten Lampedusa“ nerven ihn genauso wie der Medienrummel um das private Rettungsschiff „Aquarius“, das nach mehrtägiger Irrfahrt Anfang Juni im Hafen von Valencia einlaufen durfte. „Wir haben hier jedes Wochenende eine ‚Aquarius‘!“
Gerade einmal 14 Kilometer trennen Afrika und Europa an der engsten Stelle, nachts sieht man die Lichter von Ceuta und Tanger funkeln. Als Spanien Anfang der 1990er Jahre eine Visumspflicht für Marokkaner einführte, kamen die ersten paar tausend per Holzboot mit Außenmotor. Spanien rüstete auf, zunächst mit Kameras, Radar, Hubschraubern an der Meerenge, dann mit Stacheldraht und Wärmesensor an den Grenzzäunen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Schließlich schloss das Land Abkommen mit einem Dutzend westafrikanischer Länder. Die Flüchtlingsrouten verschoben sich, ganz zu war die Südgrenze nie.
Der Kapitän der Seenotrettung ist sauer
Seit der Weg von Libyen nach Italien so gut wie versperrt ist, versuchen sie es wieder mehr über die westliche Mittelmeerroute. Bereits von 2016 auf 2017 hat sich die Zahl der Migranten auf den Schlauchbooten verdreifacht, in diesem Jahr waren es bis Anfang August bereits mehr als im gesamten letzten Jahre. „Das war doch abzusehen! Wenn diese verblendeten Schreibtischtäter aus Madrid einmal vernünftig planen würden, hätten wir uns eine Menge Ärger gespart“, poltert Malia und hebt an zu einer heiseren Schimpftirade, gegen alles was in den letzten Wochen schief gelaufen ist.
Die Kapazitäten von Polizei und Rotem Kreuz wurden nicht rechtzeitig aufgestockt. In Algeciras, Barbate und Tarifa wusste man nicht, wohin mit den Migranten. Ende Juli wurde die „Maria Zambrano“, der 40 Meter lange Schlepper der Seenotrettung, zum Auffanglager umfunktioniert. Bis zu 400 Migranten schliefen zehn Tage lang unter Plastikplanen am Hafen. Bevor die Hafenbehörde Dixi-Klos an den Kai stellte, verrichteten die Menschen ihre Notdurft in Plastiktüten, weil die Toiletten an Bord verstopft waren. Auch auf Malias gerade mal 19 Meter langen Kreuzer verbrachten 92 Flüchtlinge eine Nacht.
„Stell dir vor, ich hätte da einen Notruf gehabt. Was hätte ich denn dann tun sollen? Mit den Leuten an Bord auslaufen? Die anderen ertrinken lassen?“ Malia deutet mit dem Kinn auf ein gutes Dutzend Iso-Matten und ein paar Tüten mit Spielzeug, die in einer Ecke des zum Büro umfunktionierten Kabuffs am Hafen von Barbate stehen: gespendet von Anwohnern. Ein befreundeter Geschäftsmann hat eine Halle, in der früher Thunfisch verarbeitet wurde, zur Verfügung gestellt. Solche Gesten seien normal, mehr Kontakt zu den Migranten haben die meisten Andalusier nicht.
Seit Anfang August ist der fensterlose Bau am Kai leer, die spanische Regierung bringt die Migranten inzwischen sofort nach Ankunft weiter in die neu eingerichteten Aufnahmezentren in Algeciras, Crinavis und Chiclana. Dort werden sie medizinisch notversorgt, polizeilich registriert und, so die Theorie, rechtlich beraten. Wer kein Asyl beantragt, und das tun in den ersten Tagen kaum einer, bekommt eine „Vereinbarung über Rückgabe“ zur Unterschrift vorgelegt. Sie sieht im Gegensatz zum Ausreisebescheid keine direkte Ausweisung vor, sondern mündet in die Übergabe der Migranten an eine Hilfsorganisation. Die Bilder von Schwarzafrikanern, die erst ummäntelt mit den roten Decken des Roten Kreuzes am Kai der Häfen stehen, dann, ausgestattet mit den immer gleichen schwarzen Sneakern und einem kleinen Bündel in der Hand, von Kleinbussen abgeholt werden, gehören inzwischen zum Alltag in Andalusien.
Erst ins Lager, dann in eine ungewisse Freiheit
Auf Amadou Diallo wartete im April die kirchliche Migrantenschutzorganisation Cardijn. Die Polizei hatte den Guineer zuerst vier Tage auf der Wache in Almería festgehalten, danach in Tarifa in einem der geschlossenen Internierungslager für illegale Migranten, gebracht. Als der Platz knapp wurde, entließ man Diallo. Seitdem lebt er mit 41 anderen jungen Schwarzafrikanern in Cádiz, in einer ehemaligen Besserungsanstalt für schwererziehbare Jugendliche.
Elf Schlafräume hat der zwischen gesichtslosen Hochhäusern aus den 70er Jahren eingezwängte, weißgetünchte Bau, dazu einen Sportplatz, Gemeinschaftsräume, Klassenzimmer.
Aus einer halb geöffneten Tür dringt konzentriertes Gemurmel: „Yo he saltado, tu has saltado, él ha saltado.“ 15 Männer konjugieren im Chor das spanische Verb für „hüpfen“. Als einer grammatikalisch korrekt den Satz „Wir sind gestern mit Beyoncé gehüpft“ bildet, gibt es Gelächter und Applaus. Der vormittägliche Sprachunterricht gehört ebenso zum Tagesablauf wie Küchen- und Putzdienst, Fußball- und Basketballspiele, die Zeit im Computerraum.
Das alles ist mehr Beschäftigungstherapie als Integrationsmaßnahme. Im Regelfall ist der Aufenthalt auf maximal drei Monate beschränkt. Diallo konnte wegen einer Operation verlängern. Doch viele bleiben lediglich zwei, drei Tage.
Das „persönliche Migrationsprojekt“
Diallos Zimmernachbar Abdul zum Beispiel. Der 19-jährige Kameruner raucht unter dem Erdbeerbaum im Innenhof eine Zigarette, am Abend wird er in den Nachtbus nach Bilbao steigen. Dort wohnt sein Bruder, der ihm die Überfahrt auf dem Schlauchboot bezahlt hat. Zehn Jahre haben die Geschwister sich nicht gesehen, was sein Bruder im Baskenland genau macht, weiß Abdul nicht. Aber irgendeinen Job, mit dem man Geld verdienen kann, wird er ihm ja wohl verschaffen können. Die von ihm unterschriebene Rückgabevereinbarung, hält er für ein Papier, dass es ihm erlaubt, sich dort frei zu bewegen.
War bei der Unterschrift ein Übersetzer zugegen? Abdul zuckt mit den Schultern, er erinnert sich nicht. Das Netzwerk Emergencias Frontera Sur kritisiert, dass auch in den neuen Aufnahmezentren kaum ausreichend rechtlich beraten werde. „Natürlich klären auch wir die Migranten über ihre rechtliche Situation auf“, sagt Carlos Carvajal, der Leiter der Einrichtung. Aber mit Begriffen wie „Arbeitserlaubnis“ oder „Aufenthaltsgenehmigung“ könnten viele nichts anfangen. „Was wir hier machen, ist ihnen einen Raum zu geben, in dem sie zur Ruhe kommen. Dann verfolgen sie ihr persönliches Migrationsprojekt weiter.“
Eine Mitarbeiterin winkt Amadou Diallo zu sich ins Büro. Es gäbe ein Ticket für ihn, nach Barcelona, Ende des Monats. Passt das? Er nickt. Er möchte weiter nach Frankreich, dort Asyl beantragen. Diallo glaubt fest daran, dass seine Geschichte für einen Schutzstatus reicht: der Minenstreik, die Schläge, dazu die Spannungen zwischen den Volksgruppen. Dass laut Dublin-Abkommen für ihn die spanischen Behörden zuständig sind, ergibt für ihn keinen Sinn. In Frankreich könne er doch viel leichter eine Arbeit finden, allein schon wegen der Sprache. „Vielleicht kann ich sogar meine Ausbildung weiter machen, so wie sich das meine Eltern für mich wünschen.“ Angst, abgewiesen und zurückgeschickt zu werden? Amadou wirft lachend den Kopf zurück. „Nach allen Hindernissen, die ich überwunden habe, schreckt mich das am wenigsten.“ Die Asociación Cardijn wird dem Innenministerium nach Diallos Abreise als letzten Aufenthaltsort Barcelona melden, eine Adresse gibt es nicht.
Es ist früher Abend geworden, Cádiz erwacht aus der Siesta. An der Strandpromenade breiten manteros, die ominipräsenten illegalen Straßenhändler, ihre Waren aus: billige Sonnenbrillen, gefakte Markenturnschuhe, Handtaschen mit eilig aufgeklebtem Chanel-Logo. Kommt die Polizei, ziehen sie die Decken an vier Schnüren zusammen, nehmen die Ware Huckepack und verschwinden: Der Handel mit gefälschten Markenprodukten wird strafrechtlich verfolgt. Die manteros, fast alle kamen wie Diallo und Abdul übers Meer, sind zum Sinnbild dafür geworden, was denjenigen in Spanien droht, die nicht regulär ins Land einreisen: ein Leben in der Klandestinität. Zwar können die sinpapeles nach drei Jahren eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, allerdings gibt es die nur ohne Vorstrafen – und ohne ausstehende Geldbußen: fast ein Ding der Unmöglichkeit.
Fallou Cissé ist einer der wenigen, der es vom mantero in die Legalität geschafft hat. Der Senegalese kam Anfang der 90er nach Algeciras, jetzt verkauft er vor der Markthalle Lederwaren, als Kleinunternehmer, an einem eigenen, ganz offiziellen Stand. Manchmal spricht einer der Neuankömmlinge ihn an, fragt nach Kontakten, Verdienstmöglichkeiten. Cissés Blick wird erst streng, dann traurig. „In ihrem Land könnten sie mehr und Sinnvolleres tun als hier.“ Die meisten endeten auf der Straße, sagt er, während er vorsichtig Geldbörsen und Gürtel aus dem Karton packt. Er selbst denke jeden Tag daran, zurückzukehren. „Aber dazu habe ich zu wenig.“
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