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MigrationsliteraturChamisso Sprak

25 Jahre Chamisso-Preis: Die Auszeichnung spiegelt die rasante Entwicklung sogenannter Migrationsliteratur im Deutschland der vergangenen Jahrzehnten wider.

María Cecilia Barbetta (r) und der Autor Ingo Schulze (l) auf der Buchmesse in Frankfurt. Bild: dpa

Als der Philologe Harald Weinrich 1985 den Adelbert-von-Chamisso-Preis anregte, um deutsch schreibenden Autoren nichtdeutscher Muttersprache mehr Anerkennung zu verschaffen, war die Bundesrepublik ein Entwicklungsland auf diesem Gebiet. Während zum Beispiel frankofone Literaturen an eine Tradition seit den 1950er-Jahren anknüpfen konnten, hatte es im Deutschen zwar immer wieder einzelne Autoren wie Elias Canetti oder Adelbert von Chamisso, Sohn französischer Revolutionsflüchtlinge, gegeben. Eine vergleichbare Vielstimmigkeit aber existierte nicht. Weinrich mutmaßte gar, die Auszeichnung werde sich in fünf Jahren erübrigen - so wenig Exponenten von Rang schien es zu geben.

Ein Vierteljahrhundert später, am 5. März 2009 in München, wird der Chamisso-Preis nun zum mittlerweile 25. Mal verliehen. Der diesjährige Preisträger, der aus Polen stammende Romancier Artur Becker, ist, weil der Preis öfter geteilt wurde, bereits der 29. Schriftsteller, der den Hauptpreis erhält. Die argentinische Autorin María Cecilia Barbetta sowie die bulgarische Lyrikerin Tzveta Sofronieva sind Nummer 28 und 29 des Förderpreises. Und Frank Albers, Projektleiter bei der Robert-Bosch-Stiftung, die den Preis vergibt, ist nur zuzustimmen, wenn er die Vielzahl der Preisträger nicht als Zeichen mangelnder Qualität verstanden wissen will. Vielmehr spiegeln die Jahrgänge eine rasante Entwicklung - von der von Fremdheits- und Arbeitserfahrungen geprägten sogenannten Gastarbeiterliteratur der 1970er- und 1980er-Jahre hin zu vielfältigen Schreibweisen, die kaum mehr unter einem Label zu fassen sind.

"In meinem Kopf / haben sich / die Grenzen zweier Sprachen / verwischt // doch / zwischen mir / und mir / verläuft noch / der Trennzaun / der Wunden zurücklässt // jedesmal / wenn ich ihn öffne." Frühe Texte der ersten Preisträgergeneration wie dieses Gedicht von Franco Biondi erscheinen heute fast historisch. Während das kulturelle Dazwischen hier noch als Ort der Ausgegrenztheit, Nichtzugehörigkeit und als "Wunde" erscheint, wird es bei Preisträgern der folgenden Generation zum produktiven Ort. In dem Erzählband "Mutterzunge" von Emine Sevgi Özdamar, Preisträgerin von 1999, heißt es zum Beispiel: "In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin. Ich saß mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin."

Handlungsorte und Sprachen, Vokabular und Grammatik vermischen sich. Auch Abweichungen von sprachlichen Normen werden zu einem ästhetischen Mittel. Es entstehen - wie es im avancierten Diskurs heißt - "dritte Räume" (Homi K. Bhabha), in denen sich Fremdes und Eigenes nicht mehr getrennt gegenüberstehen.

Eine kulturelle Diffusion vollzieht sich, die als ein diametraler Gegenentwurf zu Konzepten des "Clash of Cultures" verstanden werden kann.

Außerdem kamen vor und besonders nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 Schriftsteller aus den ehemaligen Ostblockstaaten hinzu, die wie Ota Filip, Libuse Moníková, György Dalos oder Zsuzsanna Gahse auch an ältere literarische Traditionen anknüpften. Und dass Schriftsteller der zweiten oder dritten Generation wie der Kieler Autor und Preisträger Feridun Zaimoglu überhaupt noch unter "Migrationsliteratur" einzuordnen sind - das würde nicht nur er selbst vehement bestreiten.

"Chamissoliteratur" nennt die Bosch-Stiftung deshalb die durch ihren Preis gewürdigte Kunst. Nicht um Festschreibungen vorzunehmen, sondern - wie Frank Albers betont - als Rahmen für einen vielfältigen, wandelbaren Teil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Das Jubiläumsjahr 2009 wird die Bosch-Stiftung als ganzes Chamisso-Jahr begehen: Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy gibt eine Anthologie neuer Texte der bisherigen Hauptpreisträger heraus, die sich mit dem Thema "Chamisso auf Reisen" befassen. In elf Literaturhäusern wird es über das Jahr verteilt Lesungen geben. Und der Literaturwissenschaftler Walter Schmitz, TU Dresden, bringt ein Handbuch der - laut Arbeitstitel - Migrationsliteratur heraus. Es wird im November auf einem Symposium im Deutschen Literaturarchiv Marbach diskutiert.

In Buchverkaufszahlen lässt sich der Erfolg des Preises nur schwer messen. Verdienste aber hat er sich nicht nur damit erworben, dass er Autoren Anerkennung und mit 15.000 Euro Dotierung beim Hauptpreis, Lesereisen und Schreibstipendien Arbeitsmöglichkeiten bietet. In der Germanistik, die sich vor 25 Jahren noch kaum interessiert zeigte, hat er gemeinsam mit den Anthologien Harald Weinrichs und Irmgard Ackermanns einen Wandel bewirkt.

Und anders als andere reine Literaturauszeichnungen besitzt der Chamisso-Preis auch eine soziale Komponente: Jedes Jahr werden Tourneen der Preisträger in Schulen finanziert. Migrantisch geprägten Klassen sollen sie mit ihrem erfolgreichen "Einwandern in die Sprache" als Vorbild dienen.

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3 Kommentare

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  • VK
    Viktor K.

    Antwort auf: Von Löblich und nutzlos.

     

    Ich würde die Erfahrungen der Neubürger nicht so pauschal negieren. Wenn man nur an die beinahe 250jährige Geschichte der heute russifizierten Wolgadeutschen denkt: Erlebnisse mehr als genug für epische und ergreifende Romane und Spielfilme. Ist halt nur noch kein Literat bzw. Regisseur - egal welcher Provenienz - diesem Stoff gewachsen...

  • AT
    Andreas Thomsen

    Der Chamisso-Preis ist sicherlich eine gute Sache - aber was zum Teufel soll "Migrationsliteratur" denn sein?

     

    Ist Marcel Reich-Ranicki aus Wloclawek in Polen ein "Migrationsliterat"?

    War Jurek Becker aus Lodz in Polen ein "Migrationsliterat"?

     

    Waren György Lukacs aus Budapest und Rosa Luxemburg aus Zamosc "Migrationsliteraten"?

     

    Waren Lou van Burg und Rudi Carell, Vico Toriani und Caterina Valente "Migrationsunterhalter"?

     

    Ist Artur Brauner aus Lodz ein "Migrationsfilmproduzent"?

     

    Wieso soll Artur Bekier ein "Migrationsliterat" sein, der in der Türkei geborene Feridun Zaimoglu aber nicht?

    Ist Joschka Fischer (mit Eltern aus Ungarn) dann ein "Migrationspolitiker"?

     

    War die fühere Chefredakteurin des französischen "l'Express" Francoise Giroud aus Istanbul eine "Migrationsjournalistin"?

     

    Ja wo sind wir denn?

     

    Warum verpasst man den Einwanderern immer wieder Extra-Etiketten - um sie von den Eingesessenen zu unterscheiden?

  • LU
    Löblich und nutzlos

    Der Klassenunterschied zwischen francophoner, anglophoner Einwandererliteratur und deutschsprachiger Einwandererliteratur ist der Klassenunterschied zwischen erfolgreichen und einer weniger erfolgreichen Kolonialmacht.

     

    Die ausgezeichneten Autoren haben gegen die Popkulturen keine Chance, die Bruchstücke aus der Karibik, Westafrika, Indien und dem Mittelmeerraum mischen.

     

    Es gibt auch keine traumatischen Erfahrungen wie es bei den fast schon klassischen Fremden vorkommt: Juden, Romas und Nachkommen verschleppter Sklaven (USA), die ein beschädigtes Leben als Inspirationsquelle liefern können.

     

    Hierzulande sterben die Einwanderer vor Langeweile. Aber sie lernen es nicht, sich so gepflegt zu langweilen wie der europäische Adel oder wenigstens so wie die Boheme.

     

    Angesichts der vor ihnen liegenden Sackgassen innerhalb ihrer Schulwege, der Alibi-Rollen in der Verwaltung, der Polizei, der Unterhaltungsindustrie, sollte es sich so bald auch nicht dramatisch ändern.