Migranten in Italien: Haus der Würde

In der italienischen Region Kalabrien entsteht ein Solidaritätswohnheim. Für die afrikanischen Erntearbeiter ist das eine echte Alternative zu Slums.

Mandarinen liegen unter Bäumen auf der Erde

Mandarinen in Rosarno Foto: Carlo Hermann/afp

In der westafrikanischen Sprache Bambara heißt es Dambe-So, „Haus der Würde“. Es handelt sich um ein Projekt, an dem afrikanische Arbeiter beteiligt sind, die auf den Feldern der Ebene von Gioia Tauro in den Herbst- und Wintermonaten Zitrusfrüchte ernten.

Seit vielen Jahren leben etwa 2.000 Saisonarbeiter in behelfsmäßigen Unterkünften, zum Teil ohne Heizung und sanitäre Anlagen. Im Winter werden diese Ghettos oft zu Todesfallen, weil die Bewohner offenes Feuer machen, um gegen die Kälte anzukämpfen. Etwa ein Drittel der rund um den Ort Rosarno lebenden Arbeiter bleiben nach der Erntesaison vor Ort, anstatt weiterzuziehen. Mit schlecht bezahlten Jobs versuchen sie zurechtzukommen. Man kann nicht sagen, dass sie in eine besonders gastfreundliche Gegend geraten wären, aber sie haben keine Wahl, oft besitzen sie weder Ausweis- noch Arbeitspapiere.

Für die afrikanischen Erntehelfer in der Ebene von Gioia Tauro gibt es seit 2010 immer mal wieder ein paar Tage mediale Aufmerksamkeit. Damals schossen Einheimische auf Migranten, die wehrten sich mit erst friedlichen, dann mit zornig-gewalttätigen Protestmärschen.

Seitdem wurde viel über sie gesprochen, aber kaum einmal mit ihnen. Niemand wollte wissen, welche Hoffnungen und Träume sie als Individuen hatten, jenseits der Plackerei, für ein paar Euro am Tag Mandarinen und Zitronen zu ernten. Viele von ihnen sind gestorben, zugrunde gegangen an den extrem ungesunden Lebensbedingungen in den Slums, an fehlender medizinischer Versorgung, durch Unfälle in den Lagern und bei der Arbeit, durch Gewalttaten.

Arbeit ohne Pause

Man ließ die Sache laufen, die Ausbeutungsverhältnisse verfestigten sich. Skrupellose Unternehmer vor Ort arbeiteten mit Migranten zusammen, die billige Arbeitskräfte aus ihrer jeweils eigenen ethnischen Gruppe rekrutierten. Der Verdienst lag bei 2 Euro pro Stunde für 10 Stunden Arbeit ohne Pause. Von diesem Hungerlohn war noch das Bestechungsgeld abzuziehen, das an den Arbeitsvermittler zu zahlen war.

Neubau mit Loggia

Sieht nicht nach viel aus, ist aber ein echtes Zuhause: die “casa della dignità“ in San Ferdinando Foto: Claudio La Camera

Die italienische Justiz hat begonnen, dieses System zumindest am reibungslosen Funktionieren zu hindern; ein System, das Armut und Not der Arbeiter sowie ihren illegalen Status ausnutzt. Was die zum Teil noch laufenden Untersuchungen und Prozesse ans Licht bringen, hat einen Teil der italienischen Öffentlichkeit wachgerüttelt und sorgte für Empörung über die unter brutalen Ausbeutungsverhältnissen erzeugten Lebensmittel, die dann sauber verpackt in den Supermärkten und auf den Tischen der Verbraucher landen. Und so haben afrikanische Migranten und Italiener gemeinsam eine neue Vision landwirtschaftlicher Kultur zu entwickeln begonnen, die auf Respekt für die Natur und die Menschenrechte beruht.

Der Verein SOS Rosarno und die Kooperative Mani e Terra haben eine Direktvermarktung zwischen Erzeugern und Verbrauchern aufgebaut, mit Bioprodukten, deren Herstellung eine Arbeit in Würde ermöglicht. Sie wollen ein neues Bild der bäuerlichen Welt vermitteln, jenseits von Konsumismus und Globalisierung, für ein gerechtes und faires Arbeitsleben. Dambe-so, eine Initiative der Mediterranean Hope/Fcei Association, wurde im Rahmen dieser Vision einer kreislauforientierten und nachhaltigen Wirtschaft geboren.

Das Wohnheim befindet sich im Stadtteil Era Nova des Küstenörtchens San Ferdinando, 50 Meter vom öffentlichen Strand entfernt. San Ferdinando liegt ganz in der Nähe der bekanntesten Badeorte Kalabriens: Scilla, Palmi und Tropea. Das Viertel hat eine dramatische Geschichte sozialer Kämpfe hinter sich: Die Bauern wurden jahrhundertelang ausgebeutet und schließlich von ihrem Land vertrieben, weil man von industriellen Großprojekten träumte, die dann nie vollständig realisiert wurden.

Um an einige der Protagonisten der Gewerkschaftskämpfe zu erinnern, hat Mediterranean Hope einen Garten des Gedenkens angelegt, in dem unter anderem an Giuditta Levato, eine Vertreterin der Kommunistischen Partei Italiens, erinnert wird. Giuditta war die Initiatorin und Anführerin der Kämpfe gegen die Großgrundbesitzer, die sich gegen die Landreform von 1944 stellten. Im Alter von 31 Jahren wurde sie bei einem Protestmarsch getötet. An einem Ort gescheiterter Hoffnungen wird nun gezeigt, dass die Geschichte offen ist und der Kampf für Befreiung nie aufhört.

Niedrigschwellige Bedingungen

Die renovierten und möblierten Wohnungen für zwei bis vier Personen bestehen aus einem oder zwei Schlafzimmern, Küche, Wohnzimmer, eigenem Bad und Balkon. Voll ausgebaut soll das Haus so Platz für 90 Bewohner bieten. Die Anforderungen bei der Antragsstellung sind bewusst sehr niedrig gehalten. Nur wer Alkohol- oder Drogenprobleme hat, kann nicht aufgenommen werden, weil es bislang keine Betreuungsstrukturen gibt, um damit verantwortlich umzugehen.

Ein Teil der Herberge ist einem solidarischen Tourismus vorbehalten: Man kann Projekte und Unterstützungsnetzwerke kleiner kalabrischer Landwirtschaftsbetriebe besuchen und an den zahlreichen Veranstaltungen teilnehmen, die zur Unterstützung des Wohnheims organisiert werden.

Frau auf blauem Pfand, Gedenkstein

Garten des Gedenkens in San Ferdinando Foto: Claudio La Camera

Eine dieser Veranstaltungen ist das Filmfestival „Out of the Ghetto“, das vom 14. bis 16. Oktober mit einer Jury aus Saisonarbeitern stattfinden wird. Auf dem Festival, das auch von dem Filmemacher und Aktivisten Ken Loach gefördert wird, werden Kurzfilme zum Thema Arbeit gezeigt, die vom Leben der Werktätigen berichten. Anmeldungen können bis zum 10. September 2022 an fuoridalghetto2022@gmail.com gesendet werden.

Die große und positive Resonanz auf die Eröffnung des Wohnheims zeigt vor allem eines: Ausbeutung und Verelendung von migrantischen Erntearbeitern lässt sich durch politische Maßnahmen erfolgreich bekämpfen. Die Bereitstellung von lokalem Wohnraum und die Sensibilisierung für die strukturellen Ursachen der Notlage gehören zusammen, gleichzeitig müssen Alternativen zum Produktions- und Distributionssystem der Lebensmittelmultis aufgebaut werden.

Migranten möglichst weit weg

Leider verstehen das die politischen Institutionen und ein Teil der Zivilgesellschaft noch nicht. Es herrscht hier weiter eine Logik der Vernachlässigung, gefolgt von hektischen, nicht nachhaltigen Notfallmaßnahmen: Der italienische Staat und die lokalen Institutionen planen den Bau von Wohnmodulen in den Randgebieten der Kommune. Viel Geld wird in die Hand genommen, um die Migranten möglichst weit weg von den „normalen“ Bürgern unterzubringen, ein weiteres Gefängnis, wie all jene, die seit Jahrzehnten für beziehungsweise gegen Migranten errichtet wurden. Denn auch ein modernes Gebäude, in dem nicht mehr die Ratten herumspringen, bleibt ein Ghetto, wenn es nicht in den sozialen Kontext einer Gemeinde eingebunden ist.

Das Haus der Würde hat gerade erst losgelegt, die Pläne sind groß. In den nächsten Jahren sollen mithilfe der evangelischen Kirchen in Italien, Deutschland und der Schweiz weitere Wohnheime entstehen. Dabei geht es nicht um Almosen, sondern um Win-Win. Die Migranten zahlen eine geringe Miete und bekommen dafür ein würdevolles Zuhause und nicht zuletzt eine Meldeadresse, mit der sie sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemühen können. Sie sind Teil einer Gemeinschaft und dem brutalen Überwachungsregime in den Slums entzogen.

Dambe-so ist offen für alle Besucher:innen, der Aufenthalt ist kostenlos, Spenden sind willkommen – damit weiterhin Solidarität gelebt werden kann.

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