Mietmarkt in Berlin: Wem gehört denn jetzt Neukölln?
Die Mieter*innen-Gewerkschaft Berlin kämpft gegen steigende Mieten und Verdrängung. In Neukölln war sie unterwegs für ein „Do-it-yourself-Mietenkataster“.
„In Deutschland gibt es keine öffentlich einsehbaren Informationen dazu, welches Haus wem gehört und welches bereits in eine Eigentumswohnung umgewandelt wurde“, sagt Leo Coustier von der Mieter*innen-Gewerkschaft Berlin (MGB). Leo hat die Ortsgruppe Neukölln im Oktober 2023 mitgegründet.
„Täglich werden Mietwohnungen in Eigentum umgewandelt und Menschen aus ihrem Zuhause verdrängt“, sagt Leo. In Neukölln habe es gerade vor einer Dekade viele Verkäufe gegeben. Die 10-jährigen Mieter*innenschutzfristen, in denen Mieter*innen nach der Umwandlung nicht wegen Eigenbedarfs gekündigt werden dürfen, liefen bald aus. Daher befürchten sie, dass eine „Welle an Eigenbedarfskündigungen“ auf sie zurollt.
Aktionswoche
Die Aktionswoche für das Recht auf Wohnen findet jährlich europaweit statt. In diesem Jahr gehen die Aktionstage vom 29. März bis zum 7. April. Organisiert werden sie von der European Action Coalition, einem Zusammenschluss sozialer Bewegungen aus verschiedenen europäischen Städten.
Großdemo
In Berlin werden Aktionen von Mietenwahnsinn-Bündnis organisiert. Am 1. Juni ruft das zu einer Großdemo gegen Mietenwahnsinn und Verdrängung auf.
Die „Housing Action Days“, eine europaweite Aktionswoche für das Recht auf Wohnen, nimmt die Ortsgruppe Neukölln der MGB sowie die Aktivistengruppe Kiezversammlung44 deshalb an diesem Samstagmittag zum Anlass, um in Hausgesprächen zu erfahren, wie die Wohnsituation der Mieter*innen im Kiez ist. Ziel ist es auch, ein „Do-it-yourself-Mietenkataster“ zu starten, in dem sichtbar wird, welches Haus wem gehört und wie viele Eigenbedarfsbedrohungen zu erwarten sind.
In fünf Zweierteams finden sich die Teilnehmer*innen zusammen und teilen Neukölln auf der Karte unter sich auf. Das Team Geos schnappt sich Stuttgarter und Böhmische Straße, Team Boddinstraße United nimmt die Hertzberg- und Schudomastraße. Ausgestattet mit einer Zettelwirtschaft an Fragebögen, Flyern, Demoaufrufen und Stickern begeben sie sich in das vorsommerliche Neukölln.
Während draußen in der Stadt der Bär steppt, öffnen in den Wohnhäusern nur wenige die Türen. Von denjenigen, die das Team Boddinstraße United zu Hause antrifft, sind viele beschäftigt. Sie gucken Bundesliga, kochen Pasta oder wechseln Windeln und wollen eher keine Auskunft geben. Andere Nachbar*innen sind jedoch sehr mitteilungsbedürftig. „Seit einem Jahr habe ich Mäusebefall“, erzählt ein älterer Herr, der sich auf seiner Krücke nur schwer im Türrahmen halten kann. Die Fenster öffneten sich nicht und der Wasserhahn funktioniere nicht. Er habe wiederholt den Vermieter kontaktiert. Der schicke immer wieder jemanden vorbei zur Inspektion, aber anschließend passiere nichts. „Ich will zum Mieterschutzbund, aber weil ich aktuell nicht laufen kann, muss ich warten, bis ich einen Betreuer bekomme“, sagt er.
Ein zweiter Wohnungsmarkt
Von einem anderen Team war hinterher von einer Eigentumswohnung zu hören „mit windigen Verträgen, die mit Leuten vollgeknallt wird“. Eine Agentur habe eine Ladeneinheit in eine Dreizimmer-WG umgewandelt, in der 12 Student*innen, überwiegend Pakistanis und Inder*innen, lebten. Für die Zimmer, in denen sie je zu viert lebten, zahlten sie jeweils 300 Euro. Von der Kaution, so stehe es im Mietvertrag, würden sie nur 30 Prozent rückerstattet bekommen.
„Das ist quasi ein zweiter Wohnungsmarkt“, sagt ein MGB-Mitglied. Die Agentur wolle keine Bürgschaften sehen. Solange man zahle, dürfe man bleiben, erzählt er. „Die suchen absichtlich ausländische Mieter*innen, die nicht wissen, wie sie sich wehren können.“ Der einzige deutsche Mieter in der WG habe eine Rechtsschutzversicherung gehabt und sich anwaltlich gewehrt. Er habe auch probiert, den Eigentümer ausfindig zu machen, aber an der angegebenen Adresse sei kein Büro gewesen.
Deshalb fordert die MGB mehr Transparenz. Im Grundbuch müssten Mieter*innen den Hauseigentümer ausfindig machen können. Dies sei jedoch oft nicht aktuell. Zudem würden Briefe, in denen die Umwandlung angekündigt wurde, nach häufigen Wechseln oftmals nicht an die aktuellen Mieter*innen weitergereicht. Schließlich gebe es keine Stelle, an der man geordnet für den gesamten Kiez einsehen könne, welche Häuser welchem Eigentümer gehören und welche bereits umgewandelt sind.
Die sei notwendig, damit Nachbar*innen sich zusammenschließen und Informationen teilen könnten, sagt Coustier. Denn Probleme, die Mieter*innen haben, seien meist die gleichen, die ihre Nachbar*innen auch hätten. „Am besten wäre es, Druck auf den Senat auszuüben, dass der uns die Informationen übermittelt, aber der ist selbst völlig überfordert seit den Umwandlungen“, sagt Laurenz von der Kiezversammlung44.
Im Besitz einer Briefkastenfirma
Auch in den Hausgesprächen wird deutlich, dass viele Mieter*innen nicht wissen, wer der Eigentümer ihres Hauses ist. Eine Mieterin erzählt, nach langer Recherche herausgefunden zu haben, dass das Haus einer luxemburgischen Briefkastenfirma gehöre. Dahinter würden die Tetrapak-Erb*innen stecken. Der Briefkastenfirma gehören noch andere Häuser im Kiez, erzählen andere Teams. In einem weiteren Wohnhaus, das drei Eigentümern gehört, erzählt eine Nachbarin, dass alle ausziehen müssten, das Haus werde verkauft. Wovon ein anderer Nachbar noch gar nichts mitbekommen hat.
Es äußern sich jedoch auch viele Mieter*innen positiv über ihre Wohnsituation. Alles sei saniert, die Mietpreise in Ordnung und die Eigentümer „äußerst sozial“. Die Zufriedenheit spiegelt aber auch den horrenden Zustand des Berliner Wohnungsmarktes wider. Ein Mieter erzählt, er habe „total Glück“. Für seine kleine Einzimmerwohnung zahle er „nur“ 750 Euro. In den Häusern von Heimstaden und Covivio seien die meisten Mieter*innen zufrieden gewesen, erzählt ein Team. Das sei aber ihre Strategie, sagt einer der MGB-Aktiven: „Anfangs besonders kümmernd aufzutreten und währenddessen strukturell Nebenkosten zu erhöhen und Profit zu maximieren.“
Einige Mieter*innen äußern sich auch zunächst zufrieden, erst durch Nachfragen werden erhebliche Probleme deutlich.
Gegen 18 Uhr trudeln die erschöpften Teams in einer Kneipe ein. Die Rettung naht: Es gibt Bier und Pommes. Jeweils zwischen 12 und 16 Häusern haben die Teams abgeklappert. Ein „zäher Kraftakt“, sagt Laurenz. Das Ergebnis: 55 ausgefüllte Fragebögen. Die Erfahrungen: durchmischt.
Von zufriedenen bis unzufriedenen Mieter*innen, horrenden bis vertretbaren Mieten, sanierten Bauten bis Leerstand war im Neuköllner Dschungel aus Genossenschaften, Eigentums- und Mietwohnungen, von Kleinvermietern bis Immobilienunternehmen, alles dabei.
Doch eines gilt für alle: Wem der Kiez gehört, das weiß keiner so genau.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen