MieterInnen wehren sich: Milieuschutz schützt Wohli nicht
Im Haus an der Wiener Ecke Ohlauer Straße in Kreuzberg regt sich Protest. Der neue Eigentümer hat aus ihnen eine Gemeinschaft gemacht
Kalle Kirmse und das Madonna fanden einst über eine Annonce in der Zweiten Hand zusammen, den „Ebay-Kleinanzeigen“ der digitalen Vorkriegsgeneration. „Kreuzberger Szenekneipe zu verkaufen“, stand darin. Und eine Telefonnummer. 1995 war das.
Nun hat das Haus Wiener 22/Ohlauer 2, das die Bewohner liebevoll Wohli nennen und das in einem Milieuschutzgebiet liegt, einen neuen Eigentümer. So stand es vor knapp vier Wochen in einem Brief, der nicht etwa vom neuen Besitzer, sondern von der Asum, einer Gesellschaft für soziale Stadtentwicklung, kam, die der Hausgemeinschaft Unterstützung anbot. Denn die Wohli ist verkauft. Wenn bis zum 31. August keine andere Lösung gefunden wird, geht das Haus mit seinen 17 Wohn- und 4 Gewerbeeinheiten an ein Firmengeflecht, an dessen Ende eine Schweizer Großbank steht.
Die Stimmung im Haus sei angespannt, sagt Kirmse. Die Angst vor Verdrängung geht um. „Das Problem für uns Mieter ist, dass wir viel befürchten, aber wenig wissen“, sagt er. Planungssicherheit, das wünscht er sich. „Ich glaube allerdings nicht, dass der neue Eigentümer speziell daran interessiert ist, dass die Madonna-Bar weiter existiert. Der ist daran interessiert, dass das Gewerbe vermietet ist. Und da geht es um Rendite.“ Kirmse trifft der Hausverkauf doppelt. Seine Wohnung liegt genau über der Bar. Ein Vierteljahrhundert Lebensgeschichte, verteilt auf zwei Stockwerken und knapp 170 m².
Rummel und Gewusel auf der Wiener Straße
Den letzten Abend für das Madonna habe er schon x-mal im Kopf durchgespielt, sagt Kirmse. Schon lange bevor er vor vier Wochen den Brief erhielt. Wie es sein würde, wenn er zum letzten Mal den Schlüssel rumdreht. Das letzte Mal das Licht ausmacht. Doch so weit ist es noch nicht – auch wenn die Zeit läuft. „Ich betreibe den Laden 25 Jahre. Das gebe ich nicht auf, nur damit hier nachher ein Starbucks oder ein Schuhgeschäft reinkommt. Das kann ich auch den Leuten im Kiez nicht antun“, sagt Kirmse.
Als Kalle Kirmse geboren wurde, wohnten Christa und Erwin Hartmann schon sechs Jahre in der Wohli. Fast wollte Christa Hartmann die Wohnung im fünften Stock nicht haben, im Frühjahr 1962: weil ihr die Fenstersimse so niedrig erschienen, dass sie Angst hatte, herauszufallen. Noch heute, mit ihren 79 Jahren, nähert sie sich ihnen nur mit viel Respekt. Unten, auf der Wiener Straße, scheppert der Verkehrslärm. „Ich brauche das – den Rummel, das ganze Gewusel, wenn ich aus dem Fenster gucke. Totale Ruhe kann ich nicht“, sagt sie.
Mit der Ruhe wäre es spätestens seit dem Schreiben der Asum sowieso vorbei. Sie habe schon damit gerechnet, dass so ein Brief einmal käme. Warum sollte es der Wohli auch anders gehen als so vielen anderen Häusern im Kiez? Einmal, Ende der 70er, hatten die Hartmanns schon einmal Angst, gehen zu müssen. „Eigentlich glaube ich immer an das Gute im Menschen. Aber bei diesen Immobiliengeschichten bin selbst ich misstrauisch“, sagt Christa Hartmann. Damals stellte die neue Hausverwaltung einen Modernisierungskatalog mit 13 Punkten vor. Bis heute wurden davon nur die Dachantenne und die Klingelanlage umgesetzt.
Die diamantene Hochzeit noch erleben
Seitdem scheint hier im 5. OG die Zeit stehen geblieben. Der Kachelofen, für den die Hartmanns auch im Winter regelmäßig die Kohlen hinaufschleppen, steht im Wohnzimmer, die Duschkabine in der Küche. Ein Kuriosum, aber keine Seltenheit in der Wohli. 86 m², jeder einzelne für 2,71 Euro netto kalt. Ein Spekulantentraum. Die Hartmanns hingegen träumen von etwas anderem. In weniger als zwei Jahren steht die diamantene Hochzeit an. 60 Jahre verheiratet: Das wollen sie in ihrer Wohnung erleben, sagt Erwin Hartmann, bei dem mit jedem Satz das Mecklenburger Platt seiner Kindheit wie eine durcheinanderlaufende Dünung heranrollt. Hier, wo sie zwei Kinder großgezogen und so viel erlebt haben, diese vielen kleinen Momente, bei denen sie sich mit funkelnden Augen anschauen, wenn sie davon erzählen. „Wir freuen uns über jeden Tag, den wir hier verbringen können“, sagt Christa Hartmann. Wenn er die Wohnung doch verlassen müsse, sagt ihr 82-jähriger Mann, dann nur mit den Füßen voran.
Um die schlimmsten Befürchtungen nicht wahr werden zu lassen, muss bis zum Ende des Monats eine Lösung gefunden werden – dann läuft die Frist für das Vorkaufsrecht der Stadt aus. Gern wird von offizieller Seite stattdessen aber mit sogenannten Abwendungsvereinbarungen gearbeitet. In diesen erklären sich die Käufer bereit, für einen gewissen Zeitraum auf bestimmte Maßnahmen wie Luxussanierungen zu verzichten. In der Wohli befürchten sie, dass die Bedingungen aufgeweicht werden könnten – oder der Käufer einfach auf Zeit spielt. „Ich habe die Angst, dass uns die Politik im Stich lässt. Es wird Zeit, dass sich die Stadt endlich auf die Seite der Mieter stellt“, sagt Kalle Kirmse.
Eine Genossenschaft hat sich bereit erklärt, einzuspringen. Zehn Prozent des Kaufpreises müsste die Hausgemeinschaft als Eigenanteil aufwenden. Bei einem mittleren einstelligen Millionenbetrag ist auch das nicht gerade wenig. Dafür müssen alle mitmachen. Das Ziel heißt Selbstverwaltung für ein Haus, dessen Bewohner sich untereinander bis vor Kurzem kaum kannten. „Mit dem Eingang Ohlauer hatte ich bisher nicht viel zu tun“, sagt selbst Kalle Kirmse.
Nikotinbraune Patina
„Früher wussten wir alle etwas voneinander im Haus. Das hat sich über die Jahre geändert. Das hab ich nie jemandem übel genommen. Und jetzt fügt sich das Leben im Haus wieder zusammen“, sagt Christa Hartmann. „Ich finde es Wahnsinn, was hier aus der Not entstanden ist!“ In der Wohli leben Bewohner aus acht Jahrzehnten. Freiberufler, Lebenskünstler, Rentner, Familien, WGs. Seitdem der Brief der Asum kam, trifft sich die Kreuzberger Mischung der Wohli regelmäßig, auch im Madonna. Es gibt viel zu besprechen. Ein neuer Brief kam – von der neuen Hausverwaltung. Man solle sich keine Sorgen machen, steht dort sinngemäß. Gern stelle man sich vor – zumindest schriftlich. Auf eine persönliche Einladung der Bewohner wurde hingegen nicht reagiert.
Dafür ist an diesem Montag der Großteil der Haushalte ins Madonna gekommen und sitzt im Stuhlkreis zusammen, teils auf Barhockern. Darüber an der Decke prangt das Madonnengemälde unter einer gelblich-braunen Nikotinpatina. An einigen kleinen Stellen hat Kirmse damit begonnen, die einst leuchtenden Farben freizulegen. Zu seinem 25-jährigen Jubiläum als Barbesitzer sollte es wieder in altem Glanz erstrahlen. Dann kam Corona. Und der Verkauf des Hauses.
Auch Christa Hartmann ist da. Bevor sie im Juli den Brief über den Hausverkauf erhielt, war sie nie im Madonna gewesen. Auch nicht in den Vorgänger-Etablissements. Fast 60 Jahre lang. Nun sitzt sie unauffällig mit dem Rücken zur holzvertäfelten Wand, direkt unter einer Madonna-Figur, die Hände artig gefaltet. Ihr Vater, sagt sie, habe ihr als Kind eingebläut, dass sie nur zu sprechen habe, wenn sie gefragt werde. Das stecke noch in ihr, auch wenn sie sich darüber ärgert. Denn still sein möchte sie nicht mehr. „Ich war eigentlich nie ein Kämpfertyp. Jetzt muss ich“, sagt sie.
Die Zeit läuft
Denn der Kampf ist noch nicht vorbei. Bis zum 31. August wollen sie selbst Tatsachen schaffen und den Deal mit der Genossenschaft anstoßen. „Das Beste ist“, sagt Kirmse mitten in der Sitzung der Hausgemeinschaft, „dass wir es geschafft haben, uns alle in diesem Raum zu versammeln.“
Am Ende der Zusammenkunft der Wohli, anderthalb Stunden später, hat fast jeder im Raum eine Aufgabe. Schlussspurt. Mail an die und die. Den und den anrufen. „Micha, du schreibst einen Brief“, ruft jemand durch das Madonna. „Und nicht so viel Sozialromantik!“ Es geht schließlich ums Ganze. Um Geschichten und Schicksale. Das wissen sie. Und die Zeit läuft. Für 17 Mietparteien. Für ein Haus namens Wohli. Und vielleicht läuft sie schon viel länger – für eine ganze Stadt.
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