Mieter in Berlin: Irgendwo hört der Schutz auf
Einsatz für MieterInnen ist eines der Hauptthemen im Wahlkampf: Alle Parteien versprechen Besserung. Und doch gibt es immer wieder skandalöse Kündigungen.
Solche Hausgemeinschaften gibt es nicht mehr oft. Wilhelm Hades lebt seit 1985 in der Neuen Hochstraße 48 im Wedding. Im Innenhof hat er vor seiner Remise, die er zu seiner Wohnung dazugemietet hat, Tische aufgestellt, es gibt Tapas, Apfelschorle und Bier. Nach und nach trudeln die anderen Mieterinnen und Mieter ein. Uli Küsters lebt seit 1978 im Haus, Ingrid Gaubatz seit 1970. Alle haben Sie das Kündigungsschreiben dabei, das ihnen der Eigentümer Marc Jahnel und seine Firma Trusthouse GmbH geschickt hat. Eigenbedarf.
Marc Jahnel hat zwei Töchter. Eine von ihnen ist 24 Jahre alt und will mit ihrem Freund zusammenziehen. Auch die jüngere Tochter (19) will nach dem Abitur in eine eigene Wohnung ziehen. Der besorgte Vater, heißt es im Kündigungsschreiben des Anwalts, „möchte deshalb, dass eine Bezugsperson in der unmittelbaren Nähe wohnt, die seiner Tochter bei der Eingewöhnungsphase zur Seite stehen kann“.
Dafür sollen die drei Mieter im Alter zwischen 60 und 75 Jahren zwei Etagen im Vorderhaus mit insgesamt 240 Quadratmetern räumen. „Insoweit eignet sich die Neue Hochstraße 48 letztlich optimal für die Bedürfnisse unseres Mandaten und deren Töchter“, heißt es grammatikalisch holprig im Schreiben von Jahnels Anwalt Sebastian Grups von der Kanzlei Steinpilz Partner.
Normalerweise betreffen Eigenbedarfskündigungen vor allem Mieter, die in einer Eigentumswohnung leben. Für diesen Fall hat die Politik vorgesorgt. Bis zu zehn Jahre beträgt der Kündigungsschutz. Das soll die Spekulation mit der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen eindämmen. Wer eine vermietete Eigentumswohnung kauft, muss sich also mit dem Eigenbedarf gedulden.
Ganz anders ist es, wenn der Eigentümer eines Mietshauses eine Mietwohnung für sich oder seine Kinder beansprucht. In diesem Fall beträgt die Kündigungsfrist bei Mietern, die über acht Jahre in ihrer Wohnung leben, neun Monate. Wer zwischen fünf und acht Jahren Mieter war, muss nach sechs Monaten raus, alle anderen schon nach drei.
Die Mieterinnen und Mieter in der Neuen Hochstraße werden Widerspruch einlegen. Sie glauben nicht daran, dass die Töchter des Eigentümers tatsächlich in ihre Wohnungen ziehen wollen. „Eine von denen ist Dressurreiterin, was will die im Wedding“, fragt einer. „Wahrscheinlich ist die Eigenbedarfskündigung nur ein Vorwand, um das Haus zu entmieten“, sagt er.
Zehn Jahre Kündigungsschutz bei Eigenbedarf – damit hat der Berliner Senat den gesetzlichen Rahmen des Mietrechts voll ausgeschöpft. Allerdings gilt diese lange Kündigungsfrist nur für diejenigen Mieter, die in einer umgewandelten Eigentumswohnung wohnen.
Wenn der Eigentümer eines Mietshauses eine ganz normale Mietwohnung für sich beansprucht, sind die Kündigungsfristen dramatisch kürzer. Neun Monate betragen sie, wenn man länger als acht Jahre in einer Wohnung lebt. Bei fünf bis acht Jahren Wohndauer sind es sechs Monate, bei unter fünf Jahren drei Monate. (wera)
Inzwischen haben die Betroffenen auch Briefe an die Direktkandidaten der Parteien für die Wahl am 18. September geschrieben. Maja Lasic, die SPD-Kandidatin, hat als Erste reagiert und sich bei Anwälten kundig gemacht. Doch mit den Rückmeldungen, schrieb sie an die Mieter, sei sie „nicht ganz zufrieden“. Sie habe sich „mehr erhofft“.
Auch die Grünen waren vor Ort. Stephan von Dassel, der grüne Kandidat für den Bezirksbürgermeister von Mitte, hat sogar einen kleinen Film gedreht. Doch auch die Grünen können nicht viel Hoffnung machen. „Wenn die Gründe für eine Eigenbedarfskündigung vorgeschoben waren, können die Mieter hinterher lediglich Schadenersatz geltend machen“, sagt der grüne Wohnungspolitiker Andreas Otto. Soll heißen: Zurück in ihre Wohnungen können sie nicht.
Das ist wohl auch nicht im Sinne des Eigentümers. Neben den drei Eigenbedarfskündigungen hat er auch noch eine umfassende Modernisierung angekündigt. In ihrer Not haben die Mieterinnen und Mieter nun einen prominenten Wahlkämpfer eingeschaltet, dessen Bürgerbüro sich ebenfalls in der Neuen Hochstraße 48 befindet – Frank Henkel.
Der CDU-Spitzenkandidat und Innensenator hat selbst schon schlechte Erfahrungen mit Marc Jahnel gemacht, in den Büroräumen gab es einen Wasserschaden. Nun fordert Henkel Verständnis für das Anliegen der langjährigen Mieter. „Sie haben durch viel Eigeninitiative und Engagement den Wohnwert erheblich gesteigert“, heißt es in einem Schreiben vom 31. August. Es sei deshalb wünschenswert, „wenn hier eine sozialadäquate Lösung gefunden werden könnte“.
Eigentümer Trusthouse GmbH
Christina Wolter von der Firma Trusthouse wollte gestern den Eingang des Schreibens nicht bestätigen – und beendete das Gespräch nach wenigen Sekunden. „Wir sind bei Zeitungen immer sehr vorsichtig“, sagte sie.
Vielleicht auch deshalb, weil es im Kündigungsschreiben heißt, man habe keine Alternativwohnungen. Tatsächlich gibt es im Haus Leerstand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter