Michael Kohlhaas verfilmt: Jump-Cuts mit der Axt
Der Filmemacher Des Pallières erlebte einen Lektüreschock bei Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“. In einem Film hat er ihn verarbeitet.
taz: Herr des Pallières, wie sind Sie auf Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ gestoßen?
Arnaud des Pallières: Als ich Film studierte, erzählte mir ein Freund von dem Text. Er wusste, dass ich eine Leidenschaft für Kafka hegte, und er sagte mir: „Du weißt doch, dass es dieses Buch von Kleist war, das Kafka dazu antrieb, Romane zu schreiben.“ Ich hab es also gelesen, und offen gestanden, es war einer der größten Schocks in meinem Dasein als Leser.
Warum?
Ich lese viel, ich bin ein gefräßiger Leser, aber etwas so Rasendes hatte ich noch nie gelesen. Ich spürte, dass etwas Mächtiges in dieser Novelle steckte. Zugleich war ich eingeschüchtert vom Beispiel jener Regisseure, denen es gelungen war, im Genre des Historienfilms etwa Individuelles zu erzeugen, ich denke etwa an „Aguirre“ von Werner Herzog oder an „Die sieben Samurai“ von Kurosawa. Damals glaubte ich, noch nicht reif zu sein, habe die Geschichte aber in meinem Herz und meinem Gedächtnis behalten. Einzelheiten habe ich vergessen, aber ein, zwei starke Bilder sind mir geblieben. Und vor fünf Jahren ist in meinem Privatleben etwas geschehen, was ich als Ungerechtigkeit wahrgenommen habe. Etwas musste ich mit diesem Gefühl anfangen, das mich vergiftete. Also habe ich „Michael Kohlhaas“ wieder gelesen und begonnen, das Drehbuch zu schreiben.
Was waren das für Bilder, die Ihnen blieben?
Am wichtigsten ist der Augenblick, wenn Kohlhaas auf dem Höhepunkt seiner militärischen Macht ist und im Begriff steht, eine Schlacht zu entfesseln, aus der er vermutlich siegreich hervorgehen wird. Da erhält er die Nachricht, dass seine Klage wieder angehört wird, und trifft die für die Leser wie für seine Männer überraschende Entscheidung, seine Armee aufzulösen, nach Hause zu gehen und den Gang der Klage abzuwarten. Eine außerordentliche Geschichte: Da ist einer kurz davor, die Macht in den Händen zu halten, und gibt sie auf, aus Rechtschaffenheit. Dadurch wird Kohlhaas zur legendären Figur.
Der Regisseur: geb. 1961 in Paris. Filmstudium an der Hochschule Le fémis in Paris. 1997 dreht er seinen ersten Langfilm, „Drancy Avenir“, es folgen „Adieu“ (2003) und „Parc“ (2008) sowie die Dokumentarfilme „Disneyland, mon vieux pays natal“ (2002) und „Poussières d’Amérique“ (2011).
Der Film: Der Pferdehändler Michael Kohlhaas passiert die Ländereien des Junkers Tronka, der ihm unter einem Vorwand zwei Rappen abnimmt und als Pfand einbehält. Als Kohlhaas auf dem Rückweg die Pferde zurückverlangt, sind die einst prächtigen Tiere zerschunden. Er versucht, auf dem Rechtsweg gegen den Junker vorzugehen, scheitert und entschließt sich zur Selbstjustiz, indem er ein Heer um sich schart und in den Krieg zieht. Kleists Novelle spielt in der Mitte des 16. Jahrhunderts, sie wurde im Jahr 1810 erstmals vollständig veröffentlicht und in den sechziger Jahren zweimal verfilmt (von Volker Schlöndorff und Wolf Vollmar). Arnaud des Pallières verlegt die Geschichte vom Brandenburgischen in die französischen Cevennen, er arbeitet mit einem internationalen Cast (der Däne Mads Mikkelsen spielt die Hauptrolle mit stoisch-steinernem Gesicht) und setzt auf eine reduzierte, elementare Mise en scène, die das bunt ausstaffierte Historienspektakel so sehr fürchtet wie Kohlhaas die Willkür.
„Michael Kohlhaas“ Regie: Arnaud des Pallières. Mit Mads Mikkelsen, Melusine Mayance u. a. F/D 2013, 121 Min.
Die Novelle ist im 16. Jahrhundert angesiedelt. Kleist hat sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschrieben, Deutschland war damals keine Nation, sondern setzte sich aus Kleinstaaten zusammen. Ihr Film ist im 21. Jahrhundert entstanden. Wie gehen Sie mit den drei Zeitebenen um?
Ich vereinfache. Und das bedeutet in diesem Fall: Es gibt nur eine Zeitebene, die Gegenwart des 16. Jahrhunderts. Die Arbeit der Mise en scène besteht darin, die Epoche so zur Anschauung zu bringen, dass sie der Zuschauer als gegenwärtig wahrnimmt, obwohl sie nicht die unsere ist. Die Epoche als solche soll so alltäglich und unaufdringlich sein, wie es geht. Das heißt: Man darf nicht betonen, dass es sich um die Vergangenheit handelt, man muss sich zurückhalten, wenn es um Kostüme und Requisiten geht. Und wo immer das möglich war, habe ich in der freien Natur gedreht.
In „Michael Kohlhaas“ ist Kleists Sprache zerhackt, sie hat aber zugleich einen mächtigen Vorwärtsdrang. Haben Sie versucht, dem Tribut zu zollen, etwa in der Montage oder in der Wahl von Bildausschnitten?
Ursprünglich sollte Hanns Zischler den Gouverneur spielen. Wir hatten schon bei meinem ersten Langfilm zusammengearbeitet, und ich schätzte seine intellektuellen Fähigkeiten. Ich fragte ihn: „Magst du etwas zum Drehbuch sagen, schließlich kennst du den Text?“ Ich bin ja alles andere als ein Experte, ich lese nicht auf Deutsch, eigentlich kenne ich Kleists Sprache nicht. Und Hanns mochte das Drehbuch, aber er fand es ein bisschen zu flüssig. Bei Kleist gibt es Brüche, Gewalt, Raserei. Und er sagte mir zum Beispiel: „Der Besuch der Prinzessin … Sie kommt an, das geht sehr schnell, zack, sie bricht wieder auf.“
Was ist denn mit Hanns Zischler passiert? Den Gouverneur spielt jetzt Bruno Ganz.
Hanns hatte Probleme mit dem Rücken und durfte nicht reiten, so dass er die Rolle nicht spielen konnte und wir Bruno Ganz gefragt haben. Aber während des Drehs habe ich mich noch oft an das Gespräch mit ihm erinnert. Und als es um die Montage ging, wollte ich sie elektrisch aufladen. Ich liebe mit der Axt geschlagene Ellipsen, Jump-Cuts, Kontraste aus sehr nahen und sehr weiten Einstellungen, aus kurzen und lang dauernden Einstellungen. Und ich tat es guten Gewissens, da ich mich durch das, was Hanns mir gesagt hatte, berechtigt fühlte.
Auch was Licht und Schatten angeht, sind die Kontraste stark. In der Schlachtfeldszene zum Beispiel, einer Panoramatotalen, sieht man die Schatten der Wolken auf den Reitern. War das geplant?
Wir wollten offen sein für alle möglichen meteorologischen Vorkommnisse, für gleißende Sonne, heftigen Wind, Nebel. Denn wir dachten uns, dass sie wichtige Akteure im Film sein würden. Selbstverständlich lassen sich die Elemente nicht kontrollieren. Und an dem Tag, an dem wir die Schlacht gedreht haben, war allen sehr kalt, alle litten, der Wind tat uns weh, so eisig war er. Wir konnten nur zwei Takes drehen, danach kam der Pferdetrainer zu mir und sagte: „Arnaud, hör auf, ein Pferd ist kurz davor zu sterben, so sehr hat es sich verkühlt, ich muss mich darum kümmern.“ Das war eine Katastrophe. Aber auf den zwei Takes, die wir hatten, gab es diesen Effekt, dieses Wunder, den Schatten der Wolken, wie eine Sonnenfinsternis, die über den Reitern die Nacht hereinbrechen ließ.
Was sind das für Pferde? Sie sind prächtig.
Sie gehören alle einem Pferdetrainer, Frédéric Sanabra, er macht Shows mit Pferden und kümmert sich um alles, was mit Pferdestunts zu tun hat. Er hat eine Leidenschaft für eine bestimmte Rasse, spanische Pferde, das sind die, die man auf Velazquez’ Gemälden sieht. Sie sind ungemein fotogen, und sie wecken eine ganze Vorstellungswelt. Wir haben eine Art Pferde-Casting gemacht: Welches Pferd passt zu welcher Figur? Denn die vollständige Figur, die setzte sich ja aus Mann und Pferd zusammen. Zum Beispiel das Pferd von Mads Mikkelsen: Es war das schönste, das Pferd des Prinzen. Aber es war auch sehr schwer zu reiten.
Weil es so nervös war?
Das sind alles Hengste. Die haben einen schrecklichen Charakter. Die lehnen sich die ganze Zeit auf, verströmen Nervosität und eine außergewöhnliche Animalität. Die Schauspieler waren manchmal etwas unruhig, die Pferde waren keine Sessel, keine Kühe, sondern ein bisschen wie wilde Tiere. Die Schauspieler mussten also mutig sein. Und sie mussten bereit sein, körperlich zu arbeiten, was wiederum der beste Zugang zum Film war, sehr konkret, materiell: „Kümmert euch um die Pferde, lernt, sie zu satteln und aufzuzäumen, striegelt die Pferde!“ Und dann gibt es diese Sequenz, in der Mads Mikkelsen ein Fohlen aus einer Stute holt, zum ersten Mal in seinem Leben.
Das ist echt?
Ja. Da ist kein Trick möglich. Sie sehen die Placenta, das Fohlen, es ist der Originalton, und Sie hören das Fruchtwasser, das aus der Stute austritt.
Zwei Sätze im Film werden auf Deutsch gesprochen, einmal von Kohlhaas, einmal von seinem Sohn. Warum dieser plötzliche Wechsel vom Französischen ins Deutsche?
Weil dieser Dialog von der Tochter nicht verstanden werden soll. Außerdem brauchte es etwas, um den Akzent, den Mads Mikkelsen hat, wenn er Französisch spricht, zu motivieren. Es ist ein Akzent aus dem Norden, aber aus welchem Land? Ich habe mit Mads Mikkelsen und David Kross darüber gesprochen, wie man diesen Dialog führen könnte. Auf Dänisch? Deutsch? Dann hat mich die deutsche Koproduzentin darum gebeten, es auf Deutsch zu machen. Und so ist es denn auch eine Art Hommage an den Ursprung der Geschichte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“