Mexikos Vorzeigegefängnis: Wo die Bosse tanzen
Sexarbeit, Drogen und Rockkonzerte sollen keine Seltenheit im Gefängnis von Ciudad Juárez sein. Banden haben dort das Sagen. Ein Besuch.
Auch wenn er so zusammengekauert wie jetzt auf der Betonbank im Schatten einer Mauer sitzt, wirkt er bedrohlich kompakt. Seine Augen jedoch sind freundlich und aufmerksam, wie die eines interessierten Kindes. Während er erzählt, schweift sein Blick unwillkürlich zum Areal 15, den grauweißen Zellblöcken, wo alles geschah. Der Hinkende konnte sich damals außer Reichweite der Gitterstäbe flüchten. Diejenigen, zu deren Zellen sich die Bewaffneten Zugang verschafften, wurden niedergemetzelt.
Als sich die Gefängnisleitung Stunden später mit Hilfe des Militärs Einlass verschaffte, fand sie grauenhafte Szenen vor. Tote, die aus dem zweiten Stockwerk geworfen in ihrem eigenen Blut schwammen. Von Kugeln und Stichen entstellte Körper, mit Besenstielen geschändet. Und doch war das nur eines von einer langen Reihe blutiger Massaker im damaligen Epizentrum des sogenannten Drogenkriegs.
Wer ins Innere des Gefängnisses Nr. 3 gelangen will, muss Sicherheitskontrollen und Schleusen durchlaufen. Mehrere Ringe hoher Mauern und Stacheldrahtzäune fassen den nebeneinander liegenden Frauen- und Männerknast von Ciudad Juárez ein, in denen rund 2.800 männliche und 300 weibliche Gefangene einsitzen. Der Hof zwischen den Wachtürmen ist weitläufig betoniert, nachdem unter früheren Kleingärten klandestine Waffenarsenale gefunden wurden. „Tanzen gehen“ nennen die Gefangenen den Hofgang. Außer „Tanzen“ gibt es nicht viel zu tun, auch wenn ein absurd farbenfrohes Video des Bundesstaates Chihuahua mehr Aktivitäten als in einer Ferienanlage in der Karibik verspricht.
Ein lebensferner Ort in Sepia
Der Hinkende kennt das Gefängnis Nr. 3 des Bundesstaats Chihuahua seit dem Tag, als er zu alt für den Jugendknast wurde, die kahlen Betonwände, der weite Hof, die hohen Mauern. Alles ist in Grau, Weiß, Braun, Beige gehalten. Ein lebensferner Ort in Sepia unter greller Wüstensonne. Mit seinen 41 Jahren hat der Hinkende einen Großteil seines Lebens hier verbracht. Wegen guter Führung könnte er im September freikommen. Mal wieder, nach drei Jahren.
Wäre er ein Manager, würde man ihn als innovativ und wagemutig beschreiben. Doch den Hinkenden interessieren nur Geschäfte abseits der Legalität. Wird er entlassen, ist er sofort wieder dabei: Autodiebstahl, Grenzschmuggel, Überfälle auf Geldtransporter. Er sei vom Pech verfolgt, sagt er, denn nie schaffe er es, Weihnachten im Kreise seiner Familie zu verbringen. Vorher erfolgt immer schon die nächste Festnahme. Und so wird der stämmige Kahlkopf zum unfreiwilligen Chronisten der Knastwelt von Ciudad Juárez.
Im Gefängnis begann der Krieg der Kartelle um die mexikanische Grenzstadt schon bevor die Gewalt auf der Straße losbrach und dann von Militär und Bundespolizei nochmals potenziert wurde. Während das alteingesessene Juárez-Kartell mit dem erstarkten Sinaloa-Kartell um die Vorherrschaft rang, bildete der Knast das Operationszentrum der sie unterstützenden Drogenbanden – und wurde so auch Austragungsort von Hinrichtungen und Vergeltungsmaßnahmen unter denjenigen, die die bewaffneten Arme der Kartelle repräsentierten: Soldaten der zwischen Kolumbien und den USA agierenden Generalstäbe. 210 Häftlinge starben allein im Jahr 2010, zu Hochzeiten der Gewalt in Juárez; daneben fast 30 Gefängnismitarbeiter und ein Direktor, der sich getraut hatte, Bandenchefs strafzuverlegen.
Das Zertifikat
Die Szenarien der Kriegsjahre seien nicht zu beschönigen, gehörten aber der Vergangenheit an, versichert Jorge Bisuett, Staatsanwalt für die Umsetzung strafrechtlicher und juristischer Maßnahmen in Chihuahua und in dieser Funktion oberste Autorität des Gefängnisses Nr. 3. Im mit dezenter Beleuchtung ausgestatteten Verwaltungstrakt bietet er Kaffee und süße Brötchen aus der gefängniseigenen Bäckerei an. Die autonome Selbstverwaltung der Häftlinge sei seit der Übertragung des Gefängnisses von lokaler in bundesstaatliche Verantwortung im Jahr 2011 durchbrochen.
Der Jurist mit feingeschnittenem Gesicht und schwarzen Haaren ist erst seit einem halben Jahr im Amt; das Gefängnis Nr. 3 kannte er schon, als er noch studierte. „Die Zeiten, in denen die Gefangenen bis an die Zähne bewaffnet waren, in denen es einen Tabledance-Club auf dem Gelände gab und der Direktor um Einlass bitten musste, gehören der Vergangenheit an.“ Das Gefängnis sei im letzten Jahr von der American Correctional Association (ACA) zertifiziert und mit Preisen ausgezeichnet worden, sagt Bisuett stolz.
Papst Franziskus besuchte das Gefängnis im Rahmen seiner Mexikoreise im Februar, insgesamt 36 Millionen Pesos wurden in die Umstrukturierung investiert. Ein Pilotprojekt, das Mexiko bitter nötig hat. Starben doch zuletzt ebenfalls im Februar bei Kartellkämpfen in einem Gefängnis in Monterrey über 50 Menschen. Und erst einen Monat zuvor wurde der im Juli 2015 aus dem Hochsicherheitstrakt entkommene Drogenboss Joaquín „El Chapo“ Guzmán erneut gefasst.
Im Mittelfeld der „Regierbarkeit“
Die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) spricht in einem aktuellen Bericht davon, dass eine „Selbstregierung“ der Häftlinge in Mexikos Knästen weit verbreitet sei. Durch den andauernden „Drogenkrieg“ seien die Gefängnisse überfüllt; Verwaltung und Wärter korrumpiert. Neben Narcos und Killern sitzen Verdächtige ohne Verurteilung, Schuldige wegen Bagatelldelikten und Unschuldige, die unter Folter aussagten, hinter Gittern. Das investigative Wochenmagazin Proceso stellt die Zertifizierung der mexikanischen Knäste deshalb infrage. Und auch im Gefängnis Nr. 3, das im CNDH-Bericht in der Bewertung der „Regierbarkeit“ im Mittelfeld liegt, scheinen die gleichen Strukturen vorzuherrschen wie jeher: die der Banden.
Mit bloßem Auge sind die „Aztecas“, die „Artistas Asesinos“ und die „Mexicles“ kaum voneinander zu unterscheiden. Eine graue Masse bilden die Häftlinge, die im Gänsemarsch Richtung Essenssaal ziehen. Nur Körpergröße und Turnschuhfarben scheinen zu variieren. Lediglich an verdeckten Tattoos und stolzen Handzeichen ist es plötzlich auszumachen, das wichtigste Detail im Knastleben.
Die Banden haben Tradition in Juárez, der Grenzstadt mit den ausgedehnten Armenvierteln, deren unverputzte Häuser sich im Nordwesten in die Wüste fressen und im neuen Süden neben den Weltmarktfabriken stehen, die täglich im Schichtrhythmus ein Viertel der Bevölkerung verschlucken. Erst der Krieg des Juárez-Kartells der Brüder Carillo Fuentes mit dem fußfassenden Sinaloa-Kartell des „Chapo“ machte die Banden zu dem, was sie heute sind: Stoßtrupps des organisierten Verbrechens. Die „Aztecas“ nahmen ihren Platz als die „Verteidiger von Juárez“ ein. Die „Mexicles“ wurden vom Sinaloa-Kartell eingekauft; ebenso die „Mordenden Künstler“, die einst tatsächlich Graffitis sprühten.
„La jefita“ wird respektiert
Neutral ist im Gefängnis Nr. 3 lediglich der Bereich der Evangelikalen. Hier wird nicht „getanzt“, sondern gebetet. Wachen sind nur in diesem Bereich zu sehen. In den Bereichen der Banden herrschen strenge Hierarchien, Disziplin und Respekt; die Bosse tragen Schusswesten und Pistolen. Der Chef der „Aztecas“, Joel Roque Flores alias „Junior“, ein bulliger Typ, der wegen Hinrichtungen und der Kontrolle des Drogenhandels im Zentrum von Juárez einsitzt, gibt an, im Knast mehr Macht zu haben als außerhalb der Gefängnismauern.
„Wenn es eine Struktur im Knast gibt, dann die der Banden“, bestätigt auch Gesundheitspromotorin Irma Medina mit blitzenden Augen. „La jefita“ wird sie genannt, die kleine Chefin, die aufgrund ihrer ausgesprochenen Neutralität von allen respektiert wird. Denn im Gefängnis Nr. 3 bedeutet die Bandenzugehörigkeit alles. „Wer keine hat, muss sich den Schutz einer Bande erkaufen.“
Die Wände ihres kleinen Hauses sind überfüllt mit im Knast für sie angefertigten Holzschnitten und Gemälden. Danksagungen für die Befreiung von Hautkrankheiten und die Beschaffung von Chemotherapien. Einige stellen aztekische Göttergestalten dar, beliebtestes Motiv der berüchtigten „Aztecas“. Seit einem Vierteljahrhundert betreut die resolute Frau Gefangene – „ihre Gefangenen“. Warum sie mit Mördern arbeite? Ihre Taten seien nicht zu rechtfertigen, sagt Irma Medina. „Doch hinter jedem Häftling steht eine Familiengeschichte von Vernachlässigung, Marginalisierung und Gewalt.“
Sexarbeit und Drogen
Während hinter Medina ein Dutzend Zierkarpfen das Wasser im Aquarium zum Schäumen bringen und aus dem Zimmer ihres Sohns Elektrobässe dröhnen, wirkt sie vollkommen gelassen. Die Gesundheitspromotorin kommt selbst aus armen Verhältnissen. Sie begann mit Streetwork; erst viel später konnte sie studieren. Gerade hat sie ein Gesundheitszentrum für Familienangehörige von Gefangenen außerhalb der Mauern gegründet. Immer wieder wurde sie vom Staatsdienst suspendiert, weil sie Spritzen und Kondome in den Knast einschmuggelte. „Offiziell gibt es weder Sex noch Drogen im Gefängnis Nr. 3“, berichtet Medina und verzieht das Gesicht.
Eine weitere Legende also, so scheint es. Denn erst Mitte Februar sorgte der Fall der 21-jährigen Mariana Ibarra für Furore, die ihr Exmann, Eduardo „El Lalo“ Soto, Chef der „Mexicles“, in seiner Zelle festhielt und mit dem Tod bedrohte. Die junge Frau berichtete lokalen Medien mit aufgeplatzter Lippe, dass Soto über sein Handy aus dem Gefängnis illegale Geschäfte abwickele, seine Zelle luxuriös ausgestattet sei, dass sämtliche illegalen Substanzen frei verfügbar seien und unkontrolliert auf den Gefängnishof gelangten. Die Gefängnisleitung dementierte den Vorfall kurz vor dem Papstbesuch. Ibarra bat in den USA um Asyl.
Der Sonderstaatsanwalt für Delikte gegen Frauen und geschlechterbedingte Gewalt, Ernesto Jáuregui, wird ihren Fall weiterverfolgen. Ihm unterliegt auch die Untersuchung von Zeugenaussagen im El-Navajo-Fall, dem bislang weitreichendsten Verfahren gegen Frauenmorde in der Grenzstadt, die dafür traurige Berühmtheit erlangte. Junge Frauen, die in den Jahren 2009 und 2010 verschwanden, waren vor ihrer baldigen Ermordung noch im Gefängnis gesehen worden, wo man sie zu Prostitution und Drogenverkauf zwang.
Sexarbeit, Rockkonzerte und Boxkämpfe seien auch heute keine Seltenheit im Knast von Juárez, sagen Familienangehörige hinter vorgehaltener Hand. Dieses Wochenende laden die „Aztecas“, die noch immer mächtigste Bande im Gefängnis von Juárez, zu einer Wrestlingshow im Areal 15 ein, die sie organisiert haben. Von einem Vorzeigeknast scheint das Gefängnis Nr. 3 tatsächlich noch weit entfernt zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!