Mexiko 43 Studenten sind seit September 2014 verschwunden. Die Fotografin Nin Solis dokumentiert den Kampf der Angehörigen: Die Suche nach den 43
von Wolf-Dieter Vogel
Die Fotografin Nin Solis konzentriert sich in ihrer Arbeit auf Architektur. „Zeig mir, wie du wohnst, und ich sag dir, wer du bist“, sagt die in Berlin lebende Mexikanerin. Auch in ihrem aktuellen Projekt hat Solis sich mit Räumen beschäftigt – mit leeren Räumen.
Der 26. September 2014: Lokale Polizeibeamte sowie Killer der Mafiaorganisation Guerreros Unidos greifen in der Stadt Iguala Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa an, die mehrere Busse gekapert haben, um damit zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt zu fahren. Sechs Menschen sterben, 43 werden verschleppt. Bis heute ist unklar, was mit den Verschwundenen passiert ist.
Kein Tag vergeht, an dem sich die Angehörigen der Studenten nicht fragen, wo ihre Söhne, Brüder und Enkel sind. Sie kämpfen dafür, die Wahrheit zu erfahren. „Sie sind nicht nur Opfer, sondern wütende Aktivisten“, sagt die Fotografin. Im vergangenen März besuchte die Mexikanerin einige Elternhäuser der Lehramtsstudenten im Bundesstaat Guerrero. Mit ihrer Kamera dokumentiert sie, wie die jungen Männer in der von Armut geprägten Region aufgewachsen sind. Sie porträtiert die Menschen, die seit drei Jahren unermüdlich Demonstrationen organisieren. Besonders eindrücklich sind aber die Fotos der Zimmer der Verschwundenen. Sie haben die Aura von Altaren, und doch beginnen die Familien, sie langsam wieder zu nutzen. Und wenn es nur als Trockenraum ist.
Die Generalstaatsanwaltschaft hatte sich vier Monate nach dem Angriff festgelegt: Die Entführer hätten die Studenten noch in der Nacht auf einer Müllhalde verbrannt. Die von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission eingesetzten Expertengruppe (GIEI) stellt in ihrem Abschlussbericht fest, dass es für diese These keinen Beweis gibt.
Die Ermittler berufen sich auf Aussagen der 123 verhafteten Verdächtigen. Doch laut GIEI seien bei mindestens 17 der Häftlinge Indizien für Misshandlungen und Folter gefunden worden.
Die Expertengruppe erhebt Vorwürfe gegen die Strafverfolger. Sie seien bei ihrer Arbeit von Behörden behindert worden. Die Gruppe habe in der Militärkaserne von Iguala nicht recherchieren und auch keine Soldaten befragen dürfen. Dabei spricht vieles dafür, dass Militärs und Bundespolizisten an dem Angriff beteiligt waren. Unbestritten ist, dass sie über Funk darüber informiert waren, wie die örtlichen Beamten agierten. Die Journalistin Anabel Hernández geht in ihrem Buch „Die wahre Nacht von Iguala“ sogar davon aus, dass die Streitkräfte die Attacke koordiniert haben.
Die Regierung dagegen will den Fall auf ein lokales Problem von korrupten Strukturen zwischen Polizeibeamten, dem damaligen Bürgermeister und den Verbrechern reduzieren. Eine andere Hypothese: In einem der gekaperten Busse soll sich Heroin im Wert von 2 Millionen US-Dollar befunden haben. Die mutmaßlichen Besitzer könnten allen Grund gehabt haben, mit äußerster Gewalt vorzugehen, um ihre teure Ware wiederzubekommen.
Guerrero ist das wichtigste Anbaugebiet Mexikos für Rauschgift, Iguala liegt auf einer Transportroute in die USA. US-Gerichtsakten bestätigen, dass von dort aus mit Reisebussen Drogen in den nördlichen Nachbarstaat gebracht werden. Auch die Ayotzinapa-Studenten stammen aus den Dörfern, in denen vielen nichts anderes übrig bleibt, als Schlafmohn und Marihuana anzubauen. „Sie gehen zu dem Lehrerseminar, um aus der Armut auszubrechen“, sagt Nin Solis.
Diese Verhältnisse möchte die Fotografin dokumentieren. Ihre Arbeit betrachtet sie als „Work in Progress“. Die ersten Bilder hat sie in der Kleinstadt Tixtla aufgenommen. Sie will alle 24 Gemeinden besuchen, in denen die Familien der verschwundenen Studenten leben. Ihre nächste Reise hat sie bereits geplant.
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