„Metropol“ von Eugen Ruge: Die rote Charlotte
Gefangen im Hotel Metropol – in seinem neuen Roman schreibt Eugen Ruge über seine Großmutter in der Sowjetunion.
Das Hotel Metropol ist ein Luxushotel im Zentrum Moskaus. 1907 im Jugendstil fertiggestellt, war es eine der ersten Adressen im zaristischen Russland. Nach der Oktoberrevolution beschlagnahmten es die Bolschewiki, die es ab den 1930er Jahren wieder verstärkt als Hotel nutzten. Aufwendig saniert, verfügt der imposante Jugendstilbau heute über 365 zu mietende Zimmer. In eines buchte sich zum Jahreswechsel 2014/2015 der Berliner Schriftsteller Eugen Ruge ein. Nach dem Erfolg seines großen Familienromans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (2011) hatte er das nötige Kleingeld dafür.
Ruge wollte dort nicht irgendein Zimmer haben. Es ging ihm um einen Raum auf der vierten Etage des historischen Gebäudes. In den Jahren 1936/37 hatte er die Nummer 479. Denn dort verbrachte zu jener Zeit Eugen Ruges Großmutter Charlotte ganze 477 Tage, am Stück und zusammen mit ihrem zweiten Mann, Hans Baumgarten.
Es war kein gewöhnlicher Hotelaufenthalt. Die beiden deutschen Kommunisten waren „Gäste“ des NKWD, des Innenministeriums der UdSSR. Das NKWD hatte 1936 fast das gesamte vierte Stockwerk des Hotels Metropol für die suspendierten Mitglieder der Kommunistischen Internationale (Komintern) und deren Geheimdienst OMS reserviert. Raum 479 war für Charlotte und Hans bestimmt (Deckname: „Lotte“ und „Jean Germaine“). Sie warteten hier auf die Entscheidung, ob man sie erschießen würden oder sie zurück in den Dienst der Partei dürften.
Die Phase des Großen Terrors
Eugen Ruge: „Metropol“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, 432 Seiten, 24 Euro
Ruge schildert in seinem Roman „Metropol“ nun eine Charlotte, die mit ihrem zweiten Mann als linientreue Kommunistin nach Moskau kam. Szenen der Erzählung spielen neben dem Metropol auf dem geheimen Komintern-Stützpunkt („Punkt 2“), wo beide tatsächlich in den 1930er Jahren tätig waren. Doch in der Phase des Großen Terrors (1936–38) ließ Stalin etwa 1,5 Millionen Menschen verschleppen, die Hälfte von ihnen erschießen. Unter den Opfern war fast die gesamte Kominternspitze, auch das Agentennetzwerk von „Punkt 2“.
Ruges Montageroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ hat literarisch überzeugend die untergehende DDR charakterisiert. In „Metropol“ steuert der 1954 im sowjetischen Soswa geborene Autor nun direkt auf den Kern des historischen Traumas zu, den Staat gewordenen autoritären Partei-Kommunismus. Moskauer Schauprozesse und stalinistische Säuberungswellen markierten das Ende der Idee eines Kommunismus mit irgendwie humanistischem Antlitz.
Ruges Roman geht der Frage nach, was der Terror damals mit den Menschen machte. Wir begegnen in „Metropol“ einer 42-jährigen Charlotte, die im sowjetischen Ausland Kommunistin blieb. In Deutschland herrschten die Nazis, ihre zwei erwachsenen deutschen Söhne schlagen sich selbstständig im harten Alltag Moskaus durch. Doch Charlottes Familie ist die Partei. Ihre Söhne trifft sie selten, ihr zweiter Mann lehnt dies generell ab. Ihn Ruges Roman ist er ein gefühlskalter Technokrat, ein unverbesserlicher Komintern-Agent, während die Roman-Charlotte zu tieferen Empfindungen mitunter fähig scheint. Nagt nicht auch an ihr, so Ruge, „die Ratte des Zweifels“?
Die Kaderakte Charlottes
Für „Metropol“ hat der Autor mit Hilfe des Historikers Wladislaw Hedeler die persönliche Kaderakte von Charlotte Ruge in Moskau aufspüren und auswerten können. Ein später Triumph des Enkels, den in der DDR zum Dissidenten herangereiften Eugen Ruge, gegenüber der starrsinnigen Großmutter: „Ich sehe was, was Du nicht siehst, und das ist: deine Kaderakte, Charlotte,“ schreibt er schelmisch im Prolog des Buches.
Der Roman scheint auch eine Art Selbstermächtigung im Familienkontext. Charlotte hatte sich später in der DDR, wie Eugen Ruge im Nachwort zu „Metropol“ betont, lieber die Ohren zugehalten, als ihrem eigenen Sohn Wolfgang (Eugen Ruges Vater) zuzuhören, wenn der von seinen grauenhaften Erfahrungen aus seiner Zeit im Gulag berichten wollte.
„Metropol“ schildert, wie Denunziation und „Selbstkritik“ die Beziehungen in den 1930er Jahren überlagerten. Wie seine Großmutter lange mit dem hochrangigen Parteimitglied Alexander Emel (Moses Lurje) bekannt und befreundet war, ihm ein Grammofon verkaufte, was dann plötzlich ihr Todesurteil hätte bedeuten können. Emel wurde zusammen mit Sinowjew und Kamenew als „trotzkistischer Verschwörer“ im ersten Moskauer Schauprozess 1936 verurteilt und danach erschossen.
Eugen Ruge arbeitet sich aber nicht nur in die Psyche seiner Großmutter vor. Auch die des Vorsitzenden Richters des zweiten Moskauer Schauprozess von 1937, Wassili Wassiljewitsch Ulrich, interessiert ihn. Passagen des Romans rekapitulieren den Prozessverlauf. Wassili Wassiljewitsch hat Todesurteile wie am Fließband ausgestellt. Ruge lässt ihn unter Blähungen und Erektionsstörungen leiden. Und an einer Stelle hellsichtig reflektieren: „Wenn diese Angeklagten jetzt aufstünden und die Wahrheit sagten. Alle sechzehn … Sie brächten Stalin zu Fall.“ Taten sie aber nicht. Ein Phänomen, das Arthur Koestler bereits 1940 in dem Roman „Sonnenfinsternis“ beschäftigte (von Brecht, Sartre und Co dafür als Renegat beschimpft).
Heute Chef der Geheimpolizei, morgen erschossen
Ruge beschreibt, wie die nackte Angst durch jede Ritze drang. Heute Chef der stalinistischen Geheimpolizei, morgen selber erschossen. Heute scheintot im Hotel Metropol, morgen eifrige Lektorin im stalinistischen Verlagshaus, Geliebte des Chefs. Verantwortlich für die Herausgabe der Broschüre „Die rechten Spießgesellen der trotzkistischen Bande“. Ruge treibt in „Metropol“ die Frage um, „was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind“. Charlotte und Hans werden Moskau überleben und später die DDR mit aufbauen. Haben sie all die Toten vergessen, die es auch in der eigenen Familie gab?
Bei dem Besuch 2014/15 im Hotel Metropol erwischte Eugen Ruge übrigens zunächst das falsche Zimmer. Es war, wie sich herausstellen sollte, die frühere Nummer 478. Hier wohnte von Dezember 1936 bis Februar 1937 auf Einladung Stalins der deutsche Antifaschist und berühmte Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Wand an Wand mit „Lotte“ und „Jean Germaine“ und all den anderen zumeist bald Toten aus der Komintern. Feuchtwanger will von der ihn umgebenden Terroratmosphäre nichts mitgekriegt haben. In seinem Reisebericht „Moskau 1937“ preist er den Diktator und verteidigt die Moskauer Schauprozesse.
Er hätte wahrscheinlich ebenso wenig wie Charlotte damit gerechnet, dass ein anderer Schriftsteller achtzig Jahre später im Metropol herumstöbert, in Moskau alte Akten ausgräbt. Und auch ihm so eine Rolle in einem Roman zuweist.
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