: Methadonpatienten im Getto
Seit dem 1. Juli gelten für Methadon verschreibende Ärzte neue Kriterien – in jedem Bundesland andere. In manchen Ländern standen die Abhängigen plötzlich ohne ihren Ersatzstoff auf der Straße. Deutsche Aids-Hilfe befürchtet eine „Gettoisierung“
von PHILIPP MÄDER
Rund 50.000 Heroinabhängige bekommen derzeit in Deutschland den Ersatzstoff Methadon. Seit dem 1. Juli müssen die 2.700 substituierenden Ärzte eine suchttherapeutische Qualifikation nachweisen. Dies schreibt der Bundesgesetzgeber vor. Was einfach und sinnvoll klingt, ist in der Praxis jedoch schwierig umzusetzen. Denn in jedem Bundesland legt die örtliche Ärztekammer in eigener Regie fest, welche Ausbildung ein Arzt haben muss, damit er Methadon verschreiben darf. Die jeweiligen Bestimmungen gehen weit auseinander.
Geringe Anforderungen gelten im Süden Deutschlands: In Bayern genüge als Qualifikation die Teilnahme am Münchner Suchtkongress, erklärt Dirk Schäffer von der Deutschen Aids-Hilfe (DAH). In Baden-Württemberg hat die Ärztekammer die Frist zum Nachweis der Qualifikation sogar kurzerhand bis zum Sommer 2003 verlängert. Die substituierenden Ärzte können dort so weitermachen wie bisher.
Anders im Westen: Die Ärztekammer Nordrhein pochte darauf, dass der Nachweis der Qualifikation am 1. Juli auch wirklich vorliegen musste. Auch bei Ärzten, die zu den Pionieren in Sachen Substitution gehören und teilweise schon seit 15 Jahren Methadon an Heroinabhängige verschreiben. Sie müssen 30 Stunden Fortbildung im Bereich Sucht nachweisen können, um weiterhin substituieren zu können. Bei Ärzten mit weniger als vier Jahren Erfahrung auf dem Gebiet sind es sogar 50 Stunden.
Die strikte Auslegung des Bundesrechts in Nordrhein habe am betreffenden 1. Juli zu dramatischen Szenen geführt, erzählt Wolfgang Rhode von der Drogenhilfe „Gleis 1“ in Wuppertal. Dort seien über hundert Substituierte ohne Methadon gewesen, weil ihr bisheriger Arzt den notwendigen Qualifikationsnachweis nicht habe beibringen können: „Die wurden von ihrem Arzt einfach auf die Straße gestellt, ohne dass er ihnen weitergeholfen hätte“, sagt Rhode. Die Lage habe sich beruhigt, seit die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein den Ärzten ohne Qualifikationsnachweis eine Übergangsfrist von einem Monat einräumt: „Das bedeutet für Sie, dass Sie ihre Substitutionspatienten bis zum 31. 07. 2002 behandeln dürfen“, heißt es in einem Schreiben an die Ärzte.
Eine trügerische Ruhe, denn nicht die Kassenärztliche Vereinigung darf eine solche Übergangsfrist beschließen, sondern nur die Landesärztekammer. Die aber besteht auf dem Termin 1. Juli – ohne Übergangsfrist. So formuliert Johannes Vesper, Vorsitzender des Ausschusses Sucht in der Ärztekammer Nordrhein, vorsichtig: „Zurzeit haben wir in Nordrhein eine unsichere rechtliche Situation.“ Er hätte auch sagen können: Eine ungesetzliche Situation.
Ihrer Sache wirklich sicher war die Kassenärztliche Vereinigung beim Aufsetzen des Schreibens offensichtlich nicht – und kontaktierte das zuständige Ministerium in Nordrhein-Westfalen. Dieses habe gesprächsweise signalisiert, sich für „eine arztfreundliche Verfahrensweise einzusetzen“, wie es in dem Schreiben heißt. Das Landesministerium für Gesundheit wolle aber „ausdrücklich keine Stellungnahme zu einer evtl. Ordnungswidrigkeit“ der ohne entsprechende Erlaubnis substituierenden Ärzte abgeben.
Auch im Bundesgesundheitsministerium wollte man sich zu den Vorfällen in Nordrhein-Westfalen nicht offiziell äußern. Man wisse, so hieß es lediglich, dass es dort Probleme bei der Umsetzung der Qualifikationsanforderungen gebe. Zurzeit substituieren im Gebiet Nordrhein 226 Ärzte, ohne die neuen Anforderungen zu erfüllen. Wie viele von ihnen die geforderte Ausbildung bis Ende Juli nachholen werden, ist noch offen.
Klar ist aber, dass die erhöhten Qualifikationsanforderungen die Zahl der substituierenden Ärzte deutschlandweit verringern wird. Wer nur wenige Heroinabhängige betreut, für den lohnt sich der Aufwand einer Zusatzausbildung nicht. Folge ist die Konzentration der Methadonbezieher in wenigen Schwerpunktpraxen. Zwar befürwortete die Deutsche Aids-Hilfe die bundesweite Qualifikationspflicht – über die abnehmende Zahl der substituierenden Ärzte ist Schäffer von der DAH aber alles andere als glücklich: „Dies führt zu einer Gettoisierung der Drogenabhängigen.“ Zudem werde die freie Arztwahl eingeschränkt.
Auch Gisela Dahl von der Ärztekammer Baden-Württemberg sähe es lieber, wenn jeder Arzt nur eine Hand voll Methadonbeziehern betreuen würde. Die aktuelle Situation ist aber auch in ihrem Bundesland anders: „Viele Kollegen haben zwar die notwendige Fachausbildung, wollen aber keine Substitution machen“, sagt Dahl. Weil „Heroiner“ im Wartezimmer die anderen Patienten vertreiben würden. „Dies ist ein gesellschaftliches Problem: die fehlende Akzeptanz gegenüber Drogenabhängigen.“ Und daran vermag auch die beste Qualifikation der Ärzte nichts zu ändern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen