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Archiv-Artikel

DER LANDADEL ALS TRADITION UND FANCY-DRESS Meterhohe Stammbäume

TRENDS UND DEMUT

JULIA GROSSE

Jagen Sie?“, wurde ich kürzlich mit einer Selbstverständlichkeit gefragt, die mich erschaudern ließ. Es war der Klang einer Selbstverständlichkeit, die über die Jahrhunderte reifen konnte, in aller Ruhe unter Schafen und Kühen, bei Jagdausflügen und Wohltätigkeitsveranstaltungen, tief im britischen Land.

Hier draußen lässt man sich nicht stressen. Denn das Koordinatensystem der alten Aristokratie, nach dem sie sich und ihren kleiner werdenden Mikrokosmos auf ihren renovierungsbedürftigen Schlössern und Cottages wahrnehmen, hat mit Zeit zu tun. Je länger diese weiterläuft, desto mehr spielt sie Tradition zu. Ein bisschen wie beim Kerzenwachs, der schon seit fünfzig Jahren jeden Heiligen Abend von der Weihnachtstanne auf unsere darunter liegende Familienbibel tropft. Das Erbstück ist, Jahrzehnte durchtränkt vom Wachs, zwar ruiniert, doch echte Kerzen am Baum sind bei uns Tradition. Und deshalb tröpfelt es phlegmatisch weiter. Ende der Diskussion.

Der Großteil der Beschäftigungen, denen der britische Landadel seit Generationen in ähnlicher Sturheit unverändert nachgeht, macht heute keinen wirklichen Sinn mehr. Wahrscheinlich bringt das Hetzen von Füchsen, Verzehren von randlosen Gurkensandwiches oder Abschießen von Fasanen dem ein oder anderen nicht einmal mehr sonderlich viel Spaß. Doch es ist: Tradition.

Vielleicht will der älteste Sohn gar nicht das Familienhaus und Land erben. Doch auch das ist Tradition und damit die Währung, die sich schauderhaft widerspiegelt in vererbten, holzigen Adelstiteln, unaussprechlichen Familiennamen und meterhohen Stammbäumen.

Alles unter zweihundert Jahren Familiengeschichte ist billiger Neureichtum, das weiß ich seit einem Kurzurlaub beim britischen Landadel vor ein paar Wochen. Keine zwei Stunden mit dem Zug von London, doch gefühlte zweihundert Jahre entfernt von den gewohnten Fragen des Alltags (Was läuft heute im Kino? Haben wir noch Zwiebeln im Haus?). Dort angekommen, wurden tägliche Routinen, wie das Kaufen des liberalen Guardian, für mich zur Herausforderung, da den hier draußen niemand liest. Man gab mir die Times und Country Life. Die regierenden Labour-Mitglieder heißen nur noch „die Sozialisten“ und werden nicht einmal mehr gehasst, sondern nur noch verachtet: für ihre bürgerlichen Lebensläufe, absurden Verbote, Erhöhungen und Kürzungen, mit der sie den alten Adel systematisch ausbluten ließen, so klagt man hier bei Nachmittagstee und mehrstöckigen Torten mit Marmeladenfüllung.

Hinter „Jagen Sie?“ steckt demnach vielleicht jenes letzte, verbliebene Triumphgefühl, jene Überheblichkeit einer rhetorischen Frage, deren Antwort mein aristokratischer Gesprächspartner ohnehin längst kannte. „Natürlich nicht.“ Unabsichtlich sezierte er seinen Stand vor meinen Augen: „Sie brauchen eine Tweedjacke, Reiterhose und Stiefel. Gibt’s alles im Kostümverleih …“ Ich muss mich also verkleiden, um in die britische Oberschicht mit ihrer behutsam gepflegten Etikettenexzentrik zu passen? Interessante Selbstwahrnehmung.

Doch er hatte recht. Schon am nächsten Tag konnte ich bei Londons größtem Kostümausstatter meine Jagdgarnitur „Landadel“ abholen, auf Fancy-Dress-Partys immer noch ein konstanter Renner. Nach Superheld und sexy Krankenschwester.