Merkels schlauer Podcast-Move: Fliegende Tafelschwämme
Kanzlerin Angela Merkel hat sich in ihrem letzten Videopodcast kurzerhand selbst zitiert. Keine neuen Worte, sondern eine Leistungskontrolle.
D as war lustig mit Angela Merkel. In ihrem letzten Videopodcast hat die Kanzlerin sich nämlich kurzerhand selbst zitiert. Statt wie in den Wochen zuvor die Pionierleiterin vom Dienst zu markieren und den BürgerInnen weiter geduldig ins Gewissen zu reden, sie mögen doch bitte in der Coronakrise simpelste Vorsichtsregeln befolgen, sagte sie dieses Mal nach siebzig Sekunden: „Ich weiß, eigentlich erwartet man, dass Politiker immer wieder neue Worte finden. Aber für mich gilt das, was ich Ihnen letzte Woche gesagt habe noch Wort für Wort. Daher würde ich mich freuen, wenn der eine oder andere es sich noch einmal anhört.“ Pause. „Oder Freunden vorspielt, für die es neu ist.“
Und dann folgte noch einmal der Podcast vom zurückliegenden Samstag.
Ich kann gar nicht sagen, was mir an diesem Merkel-Move am besten gefällt. Ihr „für die es neu ist“? Dieses anschließende Millisekunden-Lächeln, als wollte sie „Film ab!“ rufen? Ihre pragmatische Aufmerksamkeitsökonomie? Die Didaktik?
Was ich sicher weiß: Merkels Ich-sag’s-einfach-noch-mal erinnert mich an meinen früheren Physiklehrer in der Polytechnischen Oberschule, Berlin (Ost). Herr Herrmann sah seine Aufgabe im Prinzip darin, uns die Gesetze der Naturwissenschaft zu verklickern. Wenn er einen guten Tag hatte, tat er dies anschaulich. Wenn nicht, warf er gern mal den Tafelschwamm quer durch den Klassenraum und rief: „Hefter raus, Leistungskontrolle!“ Was er aber nie, wirklich nie tat, war, sich auf Diskussionen über den Unterrichtsinhalt einzulassen. Physikalische Gesetze waren kein Debattenraum, keine Abwägungsfragen. Sie galten. Physik ist eine Wissenschaft, nach deren Gesetzen man sich besser richten sollte. Andersherum läuft nix.
Frau Herrmann der Republik
Für eine Schülerin wie mich, die es mit den Naturwissenschaften eher nicht so hatte, aber Nichtverstandenes gern breitflächig zuzuquatschen pflegte, war Herr Herrmann deshalb ein Riesenproblem. Ob Mechanik, Optik oder Thermodynamik – Herr Herrmann erklärte den Stoff ein-, zwei-, vielleicht dreimal. Danach war Schluss. Dass ich am Ende mit einer Physik-Drei die Schule verlassen habe, war im Grunde nur seiner Menschenfreundlichkeit zu verdanken.
Heute ist die Physikerin Angela Merkel quasi die Frau Herrmann der Republik. Masken? Abstand? Reisen? Lüften? Das permanente Hinterfragen von Grundlegendem, von persönlichen Grenzen und Zumutbarkeiten im Fall einer globalen Epidemie ist so gesehen nichts anderes als mein quengeliges Rumgequatsche dunnemals in Ostberlin. Herr Herrmann pflegte mich dann immer abzuwürgen und mich – statt sich zum x-ten Male zu wiederholen – einer kurzen Leistungskontrolle zu unterziehen. Schülerinnen wie mich hatte er in seinem Lehrerleben kommen und gehen sehen. Und mit seinem fliegenden Tafelschwamm hat er mir Einsicht in Notwendigkeiten beigebogen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Umwälzungen in Syrien
Aufstieg und Fall der Familie Assad
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“