Menschen mit Behinderung: Mühsamer Weg zur Teilhabe
Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass Menschen mit Behinderung unbürokratisch geholfen wird. Die Hürden sind jedoch oft sehr hoch.

W er darf heute noch anecken – und wer wird dafür aus der Debatte gedrängt? Diese Frage stellt sich besonders scharf, wenn Menschen mit Behinderungen nicht um Teilhabe bitten, sondern sie einfordern. 1984 gründeten Aktivist*innen in Hamburg „Autonom Leben“. Sie wollten kein Mitleid, sondern Selbstbestimmung – und störten damit bewusst die gesellschaftliche Ordnung. Ihr Protest war radikal. Und notwendig.
Radikal ist, wer an die Wurzel will. Gerlef Gleiss war so jemand: Er gründete die Hamburger Assistenz Genossenschaft und grenzte sich bewusst von der Aktion Sorgenkind ab, deren mediale Mitleidskampagnen er für unvereinbar mit dem Selbstbestimmt-Leben-Ansatz hielt. Gleichzeitig kritisierte er Bioethik-Debatten, in denen das Lebensrecht von Menschen mit Behinderungen zur Verhandlungsmasse wurde.
studiert Medienmanagement an der IU in Bremen. Sein Themenschwerpunkt ist die Rolle der Medien in Bezug auf Behinderung und Inklusion. Er lebt mit einer Zerebralparese.
Ziviler Ungehorsam war für Gleiss kein Extremismus, sondern politische Strategie. Wer von Behörden entmündigt wird, kann sich nicht einfügen. Wer warten muss, bis andere Inklusion „gewähren“, bleibt abhängig. Gleiss forderte Teilhabe durch Machtverschiebung – nicht Integration als Gnade. Auch heute gilt: Ein Konzern darf jahrzehntelang das Klima schädigen – das nennen wir Wirtschaft. Aber wer Assistenz, Zugang oder Pflege einfordert, gilt schnell als „zu radikal“. Dabei geht es auf beiden Seiten um Interessen.
Nur dass die eine auf Profite abzielt – und die andere auf Würde. Nicht jede*r muss sich ankleben. Nicht jede*r muss laut sein. Aber wir sollten aufhören, das Wort radikal zu fürchten – und anfangen, radikal ehrlich zu sein über das, was falsch läuft. Und darüber, wer es ändern darf. Denn wer nicht stört, wird überhört. Wer heute Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben beantragt, kämpft oft monatelang mit Sachbearbeiter*innen, Gutachten und bürokratischer Willkür.

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Die Logik dahinter: Nur wer seine Hilfsbedürftigkeit beweist, bekommt Unterstützung. Selbstbestimmung wird zur Bringschuld gemacht – in einem System, das Kontrolle über Vertrauen stellt.
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