Menschen mit Behinderung und Sex: Enttabuisierung durch Leitlinien
Schleswig-Holstein will sexuelle Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung durch Leitlinien für Einrichtungen garantieren.
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In Schleswig-Holstein gibt es nun Leitlinien für Wohnheime, Werkstätten und andere Einrichtungen, in denen Behinderte leben. Nachdem das Konzept im Landtag vorgestellt wurde, geht es nun an die Umsetzung. Ein erster Schritt war ein Treffen in Kiel, an dem Fachleute und Menschen mit Behinderungen teilnahmen.
„Uns ist wichtig, den Schutz vor sexuellen Übergriffen und die sexuelle Selbstbestimmung gleichzeitig zu betrachten“, sagt Sonja Steinbach, Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und Mitglied der Gruppe, die die Leitlinien erarbeitet hat. Denn viele Probleme entstünden, weil „Menschen mit Behinderung schon in der Pubertät beim Thema Sex außen vor gelassen werden“, sagt der psychiatrieerfahrene Thomas Bartels. Gerade wer in Heimen und Gruppen lebt oder noch im Erwachsenenalter von seinen Eltern betreut wird, habe kaum eine Chance, eine normale Sexualität zu entwickeln.
Menschen mit Behinderung haben ein deutlich erhöhtes Risiko, Opfer von sexuellen Übergriffen zu werden: Laut einer Studie von 2014 erleben behinderte Frauen in der Kindheit und der Jugend zwei- bis dreimal häufiger eine Belästigung als nichtbehinderte. Bei erwachsenen Frauen, die in Heimen leben, finden die Übergriffe „überwiegend durch Mitbewohnerinnen und Mitbewohner“ statt, heißt es in der Studie.
„Viele denken, die Behinderung selbst sei der Grund, warum jemand übergriffig wird“, sagt Ralf Specht von der Kieler Opfer-Beratungsstelle „Petze“, die ebenfalls an den Leitlinien mitarbeitet hat. „Aber die Leute haben nur nie lernen können, wie sie mit ihren Bedürfnissen umgehen.“
Bis vor wenigen Jahren war das Thema Sex in Einrichtungen vollkommen tabu, und auch Eltern seien eher ablehnend gewesen, sagt Ann-Kathrin Lorenzen, ebenfalls bei der Petze beschäftigt: „Da hieß es: Sex gleich Geschlechtsverkehr gleich Schwangerschaft – eher erschreckend für Eltern, die bereits ihre behinderte Tochter betreuen.“ In vielen Fällen würden diese Frauen dazu gedrängt, mit Drei-Monats-Spritzen oder Spirale vorzusorgen oder sich gar sterilisieren zu lassen. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, „aber ich denke, dass da Druck ausgeübt wird“, sagt Sonja Steinbach.
Fast drei Jahre hat die Arbeitsgruppe, an der auch die Kieler Universität und die drei Ministerien für Soziales, Bildung und Justiz beteiligt waren, an den Leitlinien gearbeitet. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) ist Schirmherr. Gesetzliche Kraft haben die Regeln nicht, aber „wir sind schon der Meinung, dass es verbindliche Leitlinien sind“, sagt Steinbach.
Einrichtungen sollen nun Konzepte entwickeln, wie sie mit sexuellen Übergriffen, aber auch mit sexuellen Bedürfnissen der BewohnerInnen oder Beschäftigten umgehen. „Es geht nicht um ein Stück Papier für die Schublade, sondern darum, sich ständig damit zu befassen“, betont Steinbach. So müssen Einrichtungen unter anderem eine Risikoanalyse erstellen und ein Beschwerdeverfahren festlegen.
Dafür soll es einen finanziellen Ausgleich geben – das Thema wird im künftigen Landesrahmenplan benannt, der Grundlage für die Berechnungen der Personalkosten und Arbeitsstunden in Behinderteneinrichtungen ist. Bundesweit ziemlich einmalig seien dieses Konzept und auch die große politische Unterstützung, sagt Arne Braun aus dem Büro des Landesbehindertenbeauftragten.
Doch die Praxis-Probleme sind nicht mit Geld allein leicht zu lösen: „Ich würde den Frauen in meiner Wohngruppe schon gern Tipps geben, wie sie sich selbst befriedigen können“, sagte eine Frau bei dem Treffen. „Aber ich weiß nicht, wie ich das Gespräch anfangen soll.“
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