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Melodram "Biutiful"Alles ist Bestimmung

Zurückhaltung ist in "Biutiful" keine Option. Lieber zeigt Regisseur Alejandro González Iñárritu in dem Melodram, wie ein Dutzend Leichen am Strand angeschwemmt werden.

Die Hauptfigur Uxbal (Javier Bardem) ist in jeder Szene größer als das Leben selbst. Bild: dpa

Alejandro González Iñárritu liebt es, zu fragmentieren und zu verknüpfen. In "Amores Perros" kollidierten drei disparate Geschichten in einem Autounfall. "21 Gramm" ersetzte das Nacheinander des Erzählens zugunsten eines Durcheinanders der assoziativen Montage. Und in "Babel" löste ein Gewehrschuss in Marokko tragische bis tödliche Ereignisse in Japan, den USA und Mexiko aus. Immer geht es in diesen Filmen ums große Ganze, ums Leben und Sterben, um globale Erniedrigungszusammenhänge und lokale Durchhaltestrategien. "Biutiful" führt Motive der früheren Filme Iñárritus wieder zusammen, allerdings wie unter einem Brennglas.

Wie immer im Kino des González Iñárritu tummelt sich neben der zentralen Hauptfigur ein ganzes Ensemble an Hauptnebenfiguren, jede mit eigener Geschichte, jede genügend vom Leben gebeutelt, um einen ganzen Film mit Tränen zu füllen. Sämtliche Schicksalsfäden dieser Figuren sind jedoch mit dem von Uxbal (Javier Bardem) - Kleinganove, spirituelles Medium, Familienvater, Beschützer der Geknechteten - verknotet. So sehr, dass man sich fragt, ob nicht die Stadt ihn, sondern vielmehr Uxbal die Stadt in sich trägt und alles - Menschen, Orte, Sonnenaufgänge - sich auflöst und zerfällt, wenn Uxbal verschwindet.

Da sind die afrikanischen Straßenhändler, die Klamotten mit gefälschten Markenlogos aus Plastiksäcken an Touristen verscherbeln und näher an die teuren Prachtstraßen Barcelonas heranrücken, als der Polizei genehm ist, die, obwohl sie sich von Uxbal weiter bestechen lässt, irgendwann in einer Razzia die Afrikaner auf offener Straße zusammenschlägt. Da sind die Chinesen, illegal ins Land geschleuste Arbeitssklaven, die in Kellern das zusammennähen, was die Afrikaner verkaufen. Da ist der besonnene Chef der Chinesen und sein Kompagnon, die eine heimliche Liebesbeziehung unterhalten, von der Frau und Familie nichts wissen dürfen. Da ist die junge Mutter aus dem Senegal, deren Mann abgeschoben wird und die ohne Wohnung ist. Uxbal kümmert sich um sie alle.

Seine beiden Kinder zieht er alleine auf, seit deren Mutter in einer eigenen Wohnung versucht, ihre manisch-depressiven Schübe mit einer Tageslichtlampe zu heilen. Es gibt Zeiten, in denen sie sich besser fühlt. Dann rauft man sich zu viert zusammen, spielt Familie, allerdings eine ohne Zukunft, weil Uxbal, was er keinem verrät, nur noch kurze Zeit zu leben hat. Dabei lässt der Film offen, ob Uxbals Sorge um die Ausgebeuteten einem rein ökonomischen Kalkül entspringt - nur wenn sie nicht verhaftet sind, können seine Schützlinge Profit erwirtschaften - oder ob er nicht in Wirklichkeit mit einem nachgerade überirdischen Empathievermögen geschlagen ist, das ihn sogar mit Verstorbenen in Kontakt treten lässt. Auch dafür nimmt er Geld von den Hinterbliebenen. Alles ist Geschäft, alles Bestimmung.

Bei seiner Uraufführung in Cannes 2010 spaltete "Biutiful" die Filmkritik in zwei unversöhnliche Lager: Die einen feierten den Regisseur als Poeten und Visionär, die anderen warfen ihm Miserabilismus vor und eine sentimental-selbstverliebte Haltung. Richtig ist, dass der Film sich mit halben Sachen nicht zufrieden gibt. Wenn schon Schicksalsschlag, dann aus den Vollen. Zurückhaltung ist keine Option für González Iñárritu. Deshalb liegt, wenn ein Dutzend Leichen am Strand angeschwemmt wird, ein mildes Gegenlicht über der Szene. Deshalb hängen die Geister der Verstorbenen unter der Zimmerdecke wie Wiedergänger aus japanischen Horrorfilmen. Deshalb ist Bardem/Uxbal in jeder Szene größer als das Leben selbst und lädt schließlich mehr Schuld auf sich, als ein Einzelner tragen kann. Der Film, darin besteht seine größte Leistung, weiß, dass ein Melodrama nur dann peinlich werden kann, wenn es sich selbst Zügel anlegt.

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