Meine Straße: Der lange Weg nach Mitte
■ Achtung! Hier fliegen Badewannen und Ofenkacheln rauschend durch die Luft
„Well I'm just some kind of drifter, and I guess what I need is a permanent vacation“ – ist das der Satz, der, erstmals vor mehr als zehn Jahren, auf Klassenfahrt und dazu in der Nürnberger „Meisengeige“ vernommen, mich letztendlich für 210,76 in die Glatzer Straße tragen sollte? So genau weiß man das ja nie, doch jenes in Jim Jarmuschs „Permanent Vacation“ skizzierte „existentielle Besserwissen“ führt in den seltensten Fällen direkt nach Mitte. Höchstens in die „neue Mitte“, nach Friedrichshain, in die Glatzer Straße beispielsweise.
Genau, pflege ich an dieser Stelle in den Hörer zu brummeln, wie die Glatze, die hier im Erdgeschoß wohnt. Doch nicht einmal die Glatze wohnt noch in diesem verlassenen Hinterhaus, das seit einer Woche von Bauarbeitern in seine Einzelteile zerlegt und Stück für Stück aus den Fenstern geworfen wird. Whoops, there goes the Badewanne. Und Achtung, da fliegen die Ofenkacheln! Der Blick auf die fröhlichen Schrotthalden im Hof führt dazu, daß nicht immer, aber immer öfter die Vertreter neuer und alter Bitterkeit die Beschallung der bei meiner inzwischen nach Nürnberg verschwundenen Verdrossenen untergemieteten 30 Quadratmeter übernehmen. Elliott Smith zum Frühstück, Tom Liwa zur Teestunde und Christiane Rösinger morgens beim Heimkehren von der Ausgehgesellschaft.
Die Stampe an der Ecke wurde durch einen Großhandel für professionelle Heimtrinker ersetzt, um über die Runden zu kommen, und den Elektrobetrieb gegenüber ziert ein Zettel der Gerichtsvollzieherin. Der soziokulturelle „Glaskasten“ hat bereits vor einer Ewigkeit dichtgemacht, und im mit Autoschrott verzierten „Auto Put“ kann man zwar „Futtern wie bei Muttern“ – aber das ist auch nicht jedermanns Sache. Bleibt der Eisenbahnhändler, der immer meine Post annimmt, auch ansonsten freundlich grüßt und daher wahrscheinlich nicht von hier ist. Und Klaus aus dem Nachbarhaus, den ich (gemeinsam mit Wotan, seinem schwarzen vierfüßigen Begleiter) bei meinen täglichen Streifzügen durch die Plattenläden des Viertels mit mindestens fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit treffe. Wer wie ich schon immer mal seine Top-5-Lieblingsdialoge aus Nick Hornbys „High Fidelity“ durchspielen wollte, ist bei ihm an der richtigen Adresse. Das rettet so manch tranigen Tag, den das existentielle Besserwissen ansonsten völlig ruiniert hätte.
Um auch dieses Kapitel des eigenen Lebensromans zumindest äußerlich mit einer freundlichen Pointe zu versehen, war nun jüngst der baldige Umzug in den unteren Teil der Greifenhagener Straße angesetzt, wo ja unlängst Xavier Naidoo sein schnuckeliges Video gedreht hat. Exile in Brickville! Die historische Backsteinkulisse hätte mich nicht nur täglich an die leeren Straßen New Yorks erinnert, sie wäre als architekturgewordenes Salzwasser auch eine hübsche Erinnerung an meine irgendwo nordwestlich von hier gelegene Heimat, in der es roten Backstein wahrscheinlich sogar als Brotaufstrich gibt.
In letzter Sekunde verzichtete ich schweren Herzens auf Eckstein, P-Berg und all die anderen Annehmlichkeiten des Lebens und entschied mich, mich demnächst endlich mal verbindlich für eine der zwei geräumigen Möglichkeiten in der alten und neuen Mitte zu entscheiden. Und dann? Well, I'm just some kind of drifter... Gunnar Lützow
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