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Mein Freund, der Hai

Stasi Ein Seemann, der jahrelang auf den Weltmeeren unterwegs war, wird plötzlich von der Staatssicherheit drangsaliert. Aus seiner Akte erfährt er, dass ihn sein bester Freund angeschwärzt hat. Sechs Tage lang macht ihn das krank, dann schreibt er alles auf

Vergangenheitsbewältigung: Karl-Heinz Flegel auf der Brücke des 10.000-Tonnen-Frachtschiffs „Dresden“, mit dem er ein paar Jahre lang zur See fuhr Fotos: Julia Boek

aus Rostock Julia Boek

Ein lauer Sommerabend im Juni 1978. Der DDR-Tanker „Zeitz“ liegt mit Maschinenschaden vor der Küste Madagaskars. Auf dem Oberdeck steht Funkoffizier Karl-Heinz Flegel, den an Bord alle nur „Funker Felix“ nennen, neben seinem besten Freund Siggi, dem dritten Nautischen Offizier. Haie umkreisen das Schiff, die Matrosen werfen selbst gebaute Angeln ins Wasser.

Beim Blick auf die angelnden Matrosen kommt Flegel auf eine verrückte Idee. Er will einen Fischköder mit einem Sprengkörper präparieren, ihn an einen großen Angelhaken spießen und ins Wasser werfen. Beißt ein Hai zu, soll der Fischböller über eine Flachbatterie am Ende der Angelleine gezündet werden. „Ich sprenge einen Hai!“, sagt Flegel. Und dann übermütig zu Siggi: „So einen Knaller müsste man den Eierdieben und SED-Bonzen der Reederei doch gelegentlich in die Briefkästen stecken oder an ihr Auto backen. Vielleicht macht an Bord noch einer mit?“

Seit den 60er Jahren fährt Karl-Heinz Flegel als Funkoffizier der DDR-Handelsmarine zur See. Auf Kühl- und Öltankern bereist er die Weltmeere, transportiert Zitrusfrüchte und Rohöl aus Guinea, Ecuador oder China in die Rostocker und Wismarer Heimathäfen der DDR. Zweiundzwanzig Jahre lang gehört er zu den wenigen DDR-Bürgern, die ins westliche Ausland fahren dürfen. Flegel führt ein Seefahrerleben, zu dem neben anstrengenden Arbeitstagen auch Annehmlichkeiten wie Marlboro-Zigaretten, Bananen und abenteuerliche Landgänge gehören.

Liegt sein Schiff länger im Hafen, erkunden er und seine Kameraden westafrikanische Mangrovenwälder in Guinea, schnorcheln im Karibischen Meer vor Kuba oder feiern mit Krimsekt in den nobelsten Bars Odessas. Doch Flegels Glück währt nicht ewig. Er gerät ins Visier der Staatssicherheit, muss sein Seefahrtsbuch abgeben, erhält Berufsverbot. Der Traum vom Seefahren – er platzt plötzlich.

Ende der 70er Jahre werden die Zollkontrollen im Rostocker Heimathafen immer absurder. Vor dem Auslaufen werden die Schiffe jetzt mit Spürhunden nach DDR-Flüchtlingen durchsucht. Beim Einlaufen durchkämmen zwei Dutzend Zollbeamte jeden Winkel an Bord nach „Schund- und Schriftmaterial mit staatsfeindlichem Charakter“. So bezeichnet die Staatssicherheit die Zeitschriften oder Bücher des Klassenfeindes. Auch Flegels Funkraum und Kabine werden auseinandergenommen, die technischen Apparaturen in Einzelteile zerlegt, die Plasteverkleidung an den Kabinenfenstern abgeschraubt.

Fortgesetzte Schikane

In Flegels Schreibtischschublade finden die Zollbeamten 4 US-Dollar und drei Kassetten mit Pop-Musik. Taschengeld und Boney M reichen aus für eine vorübergehende Abmusterung. Später dann muss Flegel sein Seefahrtsbuch erneut abgeben, diesmal, weil seine Mutter einen Ausreiseantrag gestellt hat. Der Funkoffizier arbeitet nun als Reparatur-Inspekteur im Rostocker Hafen. Auch Freund Siggi fährt nicht mehr zur See. Oft kreuzen sich ihre Wege auf dem Hafengelände.

Bei einer seiner letzten Seefahrten hat Flegel, nachdem seine Ehe mit vier Kindern gescheitert ist, sich in eine Oberstewardess verliebt. Legt ihr Schiff im Rostocker Hafen an, geht er sie besuchen. Weil ein seegehendes Schiff in der DDR Grenzsperrgebiet ist, gelten strenge Sicherheitsvorschriften. Bei einem Wochenendbesuch in der Kabine seiner Freundin überhört er die Funkdurchsage „Besucher von Bord“. „Stehen bleiben!“, brüllt ein Offizier der Zollbehörde, als Flegel die Gangway fast runtergelaufen ist. Er wird verhaftet, der Vorwurf lautet „versuchte Republikflucht“. Ein Lada fährt vor, zwei Männer bringen ihn in die Stasiuntersuchungshaft. Auch Flegels Freundin muss das Schiff verlassen. Ihr wird Beihilfe zur Republikflucht vorgeworfen.

In der Haftanstalt werden beide immer wieder getrennt voneinander verhört. Flegel muss sich ausziehen: „Mund auf – Zunge raus – Zehen spreizen – Gesäßbacken auseinander!“, befiehlt der Stasi-Mitarbeiter und leuchtet ihm mit der Taschenlampe in jede Körperöffnung. Als der Stasi-Mann Flegel wiederholt nötigt, er solle die Republikflucht doch endlich zugeben, schnauzt er ihn an: „Meinen Sie wirklich, ich würde mit 33 Ostmark in der Hosentasche fliehen?“ Nach dreizehn Stunden Verhör hat die Stasi keine belastenden Indizien gegen Flegel und seine Freundin gefunden. Das Paar darf gehen. „Ich begriff das damals als reine Willkür“, sagt Flegel heute, viele Jahre später, „wir waren keine Sonderfälle, es erging vielen DDR-Bürgern so.“

Nach seiner Verhaftung hat Flegel Hafenverbot, sein Seefahrtsbuch wird endgültig eingezogen. Auch seine Freundin verliert die Seefahrerlizenz. Die ersten Monate an Land sind kaum zu ertragen: „Es ging uns nicht gut“, erinnert sich Flegel, „mein Beruf war an Land nicht gefragt.“ Ein Bekannter vermittelt Arbeit im VEB Jugendmode Rostock. Dort werden Jeanshosen und T-Shirts für westdeutsche Versandhäuser, den sowjetischen Export und zu kleineren Stückzahlen auch für DDR-Warenhäuser produziert. Ab Juli 1989 bleiben immer neue Stühle im Nähsaal leer. Montags gehen die Rostocker jetzt auf die Straße, skandieren Parolen wie „Stasi in die Produktion!“ vor der Stasi-Bezirksdirektion. Auch Flegel ist dabei.

Im Oktober 1990 wird die Belegschaft des VEB Jugendmode zusammengerufen. Die Treuhand hat entschieden, den Betrieb wegen Mangel an Wirtschaftlichkeit abzuwickeln. Zwei Jahre später macht er als Pförtner das Licht in der leer stehenden Fabrik aus.

1994 stellt Flegel einen Antrag auf Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde. Dass er wie alle Seeleute, die die DDR-Grenze überschreiten durften, eine Stasi-Akte hat, weiß er. Nun möchte er wissen, was drinsteht. Beim Durchblättern des dicken Leitz-Hefters erkennt Flegel eine Handschrift. Er zuckt zusammen: Siggis Schrift? Flegel beginnt zu lesen. In einer sogenannten Sofortinformation vom 7. Juni 1978 meldet sein bester Freund als Inoffizieller Mitarbeiter „Willi Schomburg“, dass Flegel Offiziere der DDR-Handelsflotte zu terroristischen Anschlägen gegen leitende Funktionäre anstifte. Die Nachricht setzt, so liest Flegel weiter, einen gigantischen Stasi-Apparat in Bewegung. 16 Inoffizielle Mitarbeiter suchen ab jetzt in seiner Wohnung, Gartenlaube und Garage nach Sprengstoff. Flegel wird auf Schritt und Tritt überwacht. Freund Siggi organisiert sogar „konspirative Treffen“ mit ihm, wofür der gesamte Rostocker Friedhof und Botanische Garten gesperrt werden, weil Stasi-Mitarbeiter mit Richtmikrofonen und Kameras in den Büschen stehen.

Totale Überwachung

Bitteres Fazit Diese Leute haben doch kein Schuldbewusstsein. Die denken noch, sie hätten ihr Vaterland verteidigtKarl-Heinz Flegel

In seiner Akte stehen Berichte, die minutiös beschreiben, wann das Licht in Flegels Wohnung an- und ausging, wer zu Besuch kam und wann er den Mülleimer zur Tonne brachte. Flegel ist schockiert – auch heute noch: „Wir Seeleute ahnten, dass die Stasi an Bord präsent ist“, sagt er, „aber dass die so weit gingen, das hat niemand gedacht.“

Nach dem Lesen seiner Akte ist Flegel krank. Sechs Tage lang liegt er im Bett und kann nicht aufstehen. Dass sein Siggi ihn der Staatssicherheit ausgeliefert hat, erschüttert ihn. „Nach Tagen auf See bist du völlig gläsern, da weißt du alles vom anderen“, sagt Flegel. An Tag sieben rafft er sich auf und verfasst einen „bitterbösen Brief“. „Siggi, du bist die mieseste Sau unter Allahs Sonne“, schreibt er. Auf dem Absender notiert er den Mädchennamen seiner Freundin. Er möchte sichergehen, dass Siggi die Post auch öffnet.

Der ehemalige Freund antwortet nicht. Flegel winkt ab. „Diese Leute haben doch kein Schuldbewusstsein. Die denken noch, sie hätten ihr Vaterland verteidigt.“ Selbst erklärt er sich Siggis Fehltritt so: „Mein IM wollte bei der Stasi groß rauskommen, der wollte was zu sagen haben. Das war sein Charakter.“

Bis zur Rente 1999 absolviert Flegel eine typische Nachwendelaufbahn. Er durchläuft verschiedene Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, betreut schwer vermittelbare Jugendliche, fertigt Papierpaletten, befördert als Kraftfahrer Menschen mit Handicap. Und zwischendurch ist Flegel, wie er sagt, „immer wieder ein bisschen arbeitslos“. Mit den Jahren reift der Entschluss, ein Buch über die Seefahrt zu schreiben. Flegel schreibt es nachts und nur aus der Erinnerung. Nach drei Monaten hat er sein Resümee über die Handelsschifffahrt bei der Deutschen Seereederei gezogen. „Ich sprenge einen Hai“ ist ein heiterer Erlebnisbericht über eine Zeit, „für die“, wie er sagt, „wir DDR-Seeleute uns nicht schämen müssen.“ Aber es ist auch eine Abrechnung mit Siggi und den anderen Stasi-IMs. „Nach dem Lesen meiner Stasi-Akte habe ich mir geschworen, die Schweine beim Namen zu nennen“, sagt Flegel.

Heute, die Buchveröffentlichung liegt einige Jahre zurück, trifft man den 78-Jährigen oft in seiner Gartenlaube bei Rostock, in der er gemeinsam mit Frau und Hund die Sommermonate verbringt. Flegel erzählt, dass er nächtelang am Computer sitzt und sich mit ehemaligen Seekameraden austauscht oder seine Website (funkerfelix.de) bestückt. Nach der Veröffentlichung seines Buchs hat er viele E-Mails und Anrufe erhalten. Der Mann mit dem weißgrauen Seemannsbart wirkt fröhlich, wenn er lacht, klingt es wie ein jungenhaftes Kichern. Es scheint, als könne ihn nichts zu Fall bringen. Und wenn doch, dann ist er jemand, der aus eigener Kraft wieder aufsteht.

Rückblickend hätte Flegel sich gewünscht, dass auch sein Land nach dem Mauerfall wieder aufgestanden wäre. Dass die politischen Verhältnisse geändert und die DDR in eine neue andere Staatsform umgewandelt worden wären. „Ich war nicht so erpicht auf die Wiedervereinigung“, sagt Flegel über die Wendejahre. Hals über Kopf sei der Einigungsvertrag damals geschlossen worden. „Und das Einzige, was von uns übrig blieb, war das Ampelmännchen.“

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