Mehr Sicherheit auf dem Oktoberfest: Zaungäste in München
Samstag beginnt die Wiesn. Erstmals ist das Gelände wegen der Sicherheit komplett eingezäunt. Ist der Charakter des Festes in Gefahr?
Weiter oben in der Schaustellerstraße, beim Fahrgeschäft Flipper, hebt ein Kran gerade eine Gondel auf die Karussellscheibe. Im Bierzelt Schottenhamel trinken die Arbeiter Bier aus Flaschen. Draußen steht der Porsche des Küchenchefs neben Lieferwagen und Gabelstaplern.
Seit Juli schon ist die Münchner Theresienwiese eine einzige Baustelle. Jetzt sind es nur noch wenige Tage, bis alles fertig sein muss. Am Samstag um Punkt 12 Uhr wird Oberbürgermeister Dieter Reiter im Schottenhamel mit einem Schlegel den Zapfhahn ins erste Fass Bier, den sogenannten Hirschen, schlagen. „Ozapft is“, wird er rufen, und Nachrichtensprecher jedweder nichtbayerischer Provenienz werden sich wieder die Zungen brechen bei dem Versuch, diesen Ausruf im bairischen Idiom nachzusprechen.
Die Wiesn. Die Münchner lieben sie oder hassen sie. Oft auch beides. Viele Einheimische kennen diesen Moment, wenn sie etwa an der Haltestelle Theresienwiese die U-Bahn verlassen, sich von der Menschenmenge langsam auf eine der beiden Rolltreppen schieben und von dieser nach oben befördern lassen – hinein in ein Meer aus Lärm, grellen Lichtern, durchwachsenen olfaktorischen Eindrücken und schreienden Menschen. All das eben, was bei normalen Lebewesen den Fluchtinstinkt auslöst.
Die „Oktoberfestung“
In diesem Moment kommt er dann hoch, der Zweifel: Warum bin ich hier? Bei manchem Besucher soll er sich erst nach der ersten Mass Bier wieder verflüchtigt haben.
26 Hektar umfasst das Wiesn-Gelände in diesem Jahr, 14 große Bierzelte stehen darauf. Um die sechs Millionen Besucher werden erwartet, die rund 7,5 Millionen Mass Bier trinken und sich eine halbe Million Hendl, 120 Ochsen sowie 27.000 Kilo gebrannte Mandeln einverleiben sollen. Im letzten Jahr hinterließen sie 1.413 Tonnen Müll und 3.665 Fundsachen. Darunter 479 Mobiltelefone, drei Dirndl, ein Hund und eine Reitpeitsche. Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr also?
Nicht ganz! Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird das Volksfest komplett eingezäunt. Und an seinen Eingängen finden Kontrollen statt. Mit Rucksack oder einer großen Tasche kommt hier keiner mehr durch. Von der „Oktoberfestung“ ist die Rede.
Rund 2.000 größere Oktoberfeste gibt es auf dem übrigen Globus. Alles Kopien. Verliert nun ausgerechnet das Original seinen einzigartigen Charakter? Im Münchner Stadtrat sind etliche dieser Ansicht, etwa die Grünen-Fraktion.
300 bis 400 Meter mehr Zaun
Marcus da Gloria Martins dagegen versteht die Aufregung nicht. „Dass uns ein Zaun so bewegt, das hat das letzte Mal Stefan Raab geschafft.“ Da Gloria Martins ist der Mann, der in der Nacht des Münchner Amoklaufs stundenlang auf so ziemlich jedem deutschen Fernsehschirm zu sehen war. Er ist Sprecher der Münchner Polizei und seither ihr Gesicht. Die Wiesn sei auch bisher zu einem großen Teil umzäunt gewesen, erklärt er, jetzt kämen halt noch 300 bis 400 Meter Zaun dazu.
Neben ihm sitzt Hubertus Andrä, sein Chef. Der Polizeipräsident erklärt, es gebe „keinerlei konkrete Gefährdungshinweise“. Und deshalb auch kein neues Sicherheitskonzept. Nur „Anpassungen“, die man nach den Bluttaten von Würzburg, Ansbach und München vorgenommen habe. So wurde die Zahl der Polizisten, die rund um die Wiesn im Einsatz sind, auf 600 erhöht. Einige Maßnahmen habe man ohnehin schon 2009 eingeführt, zum Beispiel den Bavariaring für den Verkehr gesperrt.
Fast könnte man meinen, die ganze Zaunaktion sei mehr was fürs Gemüt. Damit sich der Wiesnbesucher bei seinem Bier entspannen kann. Für Andrä jedenfalls steht fest: „Der Charakter der Wiesn wird durch den Zaun nicht verändert.“ Die Wirte, die Schausteller – und vor allem die Besucher, die prägten doch schließlich den Charakter der Wiesn, nicht ein paar Meter Rollzaun.
Groß also bleibt es. Und sonst?
Was also macht nun eigentlich das Wesen der Wiesn aus? Die Suche nach der Antwort auf diese Frage führt einen an den Stadtrand. Denn im südlichen Stadtteil Solln lebt Gabriele Weishäupl. Und wenn sich jemand mit dem Oktoberfest auskennt, dann diese Frau. 27 Jahre lang war sie Tourismusdirektorin der Stadt München und Chefin der Wiesn.
Fragt man Weishäupl, was die Wiesn ist, fällt ihr zunächst einmal ein Adjektiv ein: gigantisch. Die 69-Jährige sitzt in einer Sollner Eisdiele und erzählt von ihrem ersten Wiesnbesuch in den Sechzigern. Die schiere Größe dieses Volksfestes war das, was die gebürtige Passauerin schon damals besonders beeindruckt hat.
Ein Prosit der Gemütlichkeit? Tausend- und abertausendfach wird diese Hymne auf die Bierseligkeit während der Wiesn in den Zelten gegrölt – und dann wird „gsuffa“. „Inwieweit es in einem Zelt mit 10.000 Plätzen gemütlich ist, das muss jeder selbst entscheiden, der da reingeht“, sagt Weishäupl. „Für mich hat das nichts mehr mit Gemütlichkeit zu tun.“
Gabriele Weishäupl, Ex-Wiesnchefin
Groß also. Und sonst? „Für mich ist die Wiesn ein bedeutendes und einmaliges Phänomen, weil sie immer Spiegelbild der Zeit war – der Gesellschaft, aber auch der Politik.“ Weishäupl macht eine Pause. „Und jetzt der Zaun!“ Die Wiesn als Spiegelbild einer verängstigten Gesellschaft?
Tödliches Gedränge statt Terror?
Die Diskussion über den Zaun habe es ja schon lange gegeben. „Ich war immer dagegen, weil ich die Gefahr beim Oktoberfest eher durch ein tödliches Gedränge gesehen habe“, erzählt die ehemalige Wiesnchefin. Die Zaunbefürworter halten dagegen. Man könne den Rollzaun innerhalb von 50 Sekunden abbauen. Trotzdem: „Das war immer meine größte Angst. Das andere ist als sogenannte Abstraktgefährdung mitgelaufen.“
Das andere, das ist die Angst vor Anschlägen. Ein Attentat hat es ja schon gegeben. 1980. 13 Tote, 68 Schwerverletzte. Der schwerste Terrorakt der deutschen Nachkriegsgeschichte, heißt es. Die Rohrbombe des 21-jährigen Gundolf Köhler explodierte damals am Haupteingang, also da, wo in diesem Jahr ein Großteil der Kontrollen stattfinden werden. „Einen Anschlag wirst du durch einen Zaun nicht verhindern“, sagt Weishäupl.
Nicht dass Weishäupl an einem Übermaß an Fatalismus litte. Natürlich war die Sicherheit auch in ihrer Amtszeit immer ein großes Thema. Etwa im Jahr 2009, als man sie auf ein Internetvideo hinwies. „Da hockte ein Islamist mit einer Eierhandgranate und einer Kalaschnikow. Der sagte: Sicherheit in Deutschland ist nur eine Illusion. Hinter ihm: der Kölner Dom, das Brandenburger Tor und der Haupteingang zur Wiesn.“ Die Botschaft war klar. „Ich erinnere mich noch sehr gut an diesen Augenblick. Ich hatte Gänsehaut.“ Nach dem Video kamen die Poller, die Sprengstoffhunde und das Überflugverbot.
Und jetzt der Zaun. „Wenn nun weniger Besucher kommen, wird sich der Charakter der Wiesn schon ein wenig verändern“, kündigt Weishäupl an. „Aber es gab immer Höhen und Tiefen. 24-mal ist die Wiesn ausgefallen. Cholera, Kriege, sonst was. Und dann hat sich die Wiesn immer wieder neu erfunden. Ich sehe das entspannt.“ Anders als zum Beispiel Regine Sixt, Autovermietersgattin. Die hat ihre traditionelle „Damen-Wiesn“ in diesem Jahr abgesagt. Weishäupl wird dagegen schon aufs Oktoberfest gehen. Zehn Einladungen hat sie angenommen.
„Nicht hinzugehen ist die völlig falsche Botschaft“, findet auch die Kabarettistin Luise Kinseher, „wir dürfen nicht klein beigeben.“ Gemeinsam mit ihrem Kollegen Christian Springer hat sie sich daher werbewirksam ein Lebkuchenherz umgehängt. Die Aufschrift: „I geh! Du aa?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid