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Mehr Recht auf Regelschulen für BehinderteUnter Schurkenstaaten

Ein Gutachten gesteht behinderten Kindern Rechte auf Regelschulen zu - und erklärt Bundesländer indirekt zu Schurkenstaaten, weil sie Menschenrechte verletzten.

Während der Kindergarten häufig noch ein Ort der Integration ist, sorgt ein einzigartiges getrenntes Sonderschulwesen in Deutschland dafür, dass über 400.000 Schüler von Regelschulen ausgeschlossen sind. Bild: dpa

BERLIN taz | Ein Rechtsgutachten verleiht den Kindern mit Handikaps viel weiter gehende Rechte als bisher angenommen. Der Völkerrechtler Eibe Riedel kommt in dem Papier, das der taz vorliegt, zu dem Schluss, dass behinderte Kinder nur in Ausnahmefällen vom Besuch der allgemeinbildenden Schule abgehalten werden dürfen. Bislang ist aber die Regel in Deutschland, das ein einzigartiges getrenntes Sonderschulwesen betreibt, in dem über 400.000 Schüler von Regelschulen ausgeschlossen sind.

In dem Gutachten werden die Bundesländer praktisch als Schurkenstaaten gesehen, weil sie die Menschenrechte behinderter Kinder verletzen. "Entgegen häufiger Praxis ist der Regelschule ein grundsätzlicher Vorrang einzuräumen", heißt es in der vorläufigen Fassung des Gutachtens, das am Donnerstag in Berlin vorgestellt wird. Und weiter: "Die staatliche Befugnis, das Kind gegen dessen bzw. gegen den Willen seiner Sorgeberechtigten der Sonderschule zuzuweisen, ist abzuschaffen."

Das bezieht sich auf die Praxis in vielen Bundesländern, Kinder auch gegen den Willen der Eltern begutachten zu lassen - und anschließend diese Kinder in Sonderschulen einweisen zu lassen. Untersuchungen des Erziehungswissenschaftlers Hans Wocken haben aber gezeigt, dass in Sonderschulen oft "pädagogische Friedhofsruhe herrscht". Statistisch ist es höchst unwahrscheinlich, aus Sonderschulen wieder auszubrechen. Der taz liegen dramatische Berichte betroffener Eltern vor, die von den Schikanen der Schulbehörden erzählen - und von den Lernbehinderungen, die von den sogenannten Förderschulen ausgehen können.

Das Gutachten stammt von einem anerkannten Juristen. Eibe Riedel ist seit 1997 Mitglied des "Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen" in Genf. In Deutschland war er Professor für öffentliches und Völkerrecht an der Elite-Universität Mannheim. Riedel räumt mit dem Vorurteil auf, die von der UN geforderte inklusive Schule sei zu teuer. "In Deutschland wäre eine Reform weitgehend kostenneutral und die Aufrechterhaltung der hohen Bildungsqualität relativ unproblematisch möglich", schreibt er.

Tatsächlich ist es so, dass das Sonderschulwesen ein sehr teures Instrument ist. Allerdings ist unter Experten umstritten, ob sich das förderpädagogische Know-how der bisherigen Spezialschulen einfach auf alle Regelschulen übertragen ließe - zumal diese überwiegend im Frontalstil arbeiten. Es wird befürchtet, dass der Transfer von Personal den Sparforderungen der Länder zum Opfer fallen könnte.

Eibe Riedel ist übrigens gegen die von Kultusministern und manchen Eltern an die Wand gemalte gänzliche Auflösung der Sonderschulen. "Sonderpädagogische Einrichtungen (Sonderschulen, Förderschulen) sind nach der BRK [Behindertenrechtskonvention, d. Red.] nicht abzuschaffen", gutachtet der emeritierte Professor. "Die BRK sieht eine Zuweisung an diese jedoch als Ausnahme an, die von staatlicher Seite - entlang der Interessen behinderter Kinder - zu erklären ist; die Beweislast dafür, warum der Vorrang der inklusiven Beschulung aller Kinder zurückstehen muss, trägt der Staat."

Das Gutachten wurde im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesarbeitsgemeinschaft "Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen" erstellt. Auch der Sozialverband Deutschland unterstützt die Aussagen des Papiers. Die Organisationen leiten aus dem Gutachten ab, "dass behinderte Kinder ab sofort das Recht haben, gemeinsam mit nicht behinderten Kindern eine allgemeine Schule zu besuchen. Dieser individuelle Rechtsanspruch gilt unabhängig von noch geltenden anders lautenden Schulgesetzen." Die Zuweisung von Kindern mit Behinderung in Sonderschulen dürfe nur "in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen und nicht gegen den Willen der Eltern erfolgen". Auf diese Botschaft warten tausende von Familien mit behinderten Kindern seit Jahrzehnten.

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6 Kommentare

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  • PM
    Peter Maier

    Die Universität Mannheim ist keine Elite-Universität.

  • M
    mana

    herr cuno,

    schöner wäre es freilich, wenn sie, als nicht-schreibtisch-täter, ihre reichlich vorhandene sonderpädagogische kompetenz in das regelschulwesen einbringen würden ...

  • T
    tineup

    So ein Gutachten gab es vor über zehn Jahren schon mal, und leider hat es nichts bewirkt, die Verwaltungsgerichte haben den klagenden Eltern was gehustet. Der verheerende Bruch in der Biografie unseres behinderten Sohnes, der nach der integrativen Grundschule in die Sonderschule zwangseingewiesen wurde, hat unsere ganze Familie zutiefst traumatisiert. Es ist halt einfach so: Der Kontakt zu den nichtbehinderten Mitschülern ist durch nichts und niemand und auch durch keinerlei sonderpädagogische Akrobatik zu ersetzen.

  • T
    tom

    Ich finde Sonderschulen für körperbehinderte nicht diskriminieren, weil Kinder mit Handicap in normalen Schulen häufiger diskriminierungen ausgesetzt sind.

     

    Aufgrund der größe der Klassen in normalen schulen können die Lehrer dort leider nicht gut eingreifen.

     

    Ich habe dieses selbst erlebt, nur auf grund meiner Körperlichen größe und gestörter Feinmotorik wurde ich von meinen mitschülern verfolgt und bespuckt.

    Das ging bis zur 7. Klasse, daraufhin wurde ich in eine Sonderschule für Körperbehinderte überwiesen.

     

    Dort machte ich meinen Realschulabschluss.

     

    Ich bin froh das solche Einrichtungen existieren, denn ohne die kleinere Klassen hätte ich vermutlich nicht mal einen Hauptschulabschluss geschafft,weil die permanente

    Schikanen meiner Mitschüler mich vom lernen abhielten.

  • S
    sontag

    "Der taz liegen dramatische Berichte betroffener Eltern vor, die von den Schikanen der Schulbehörden erzählen - und von den Lernbehinderungen, die von den sogenannten Förderschulen ausgehen können."

     

    Ich möchte Sie bitten, hiervon etwas zu veröffentlichen, weil ich glaube, dass die meisten Eltern mehr Angst um das "Niveau" im Hinblick auf Leistung in den Klassen ihrer Kinder haben als um das Niveau an Mitmenschlichkeit in Deutschland

  • MC
    Martin Cuno

    Bei jedem neuen von Christian Füllers regelmäßigen Ergüssen, die er über die Arbeit zigtausender Sonderpädagogen und – wichtiger – über die Lebenssituationen hunderttausender Kinder und Jugendlicher in Deutschland auskübelt ("Sonderschulwesen"), versuche ich erfolglos einen Punkt zu entdecken, wo dieser Mann aus praktischer Berührung mit behinderten Menschen und ihren Problemen spricht. Das gleiche gilt für die redaktionelle Zusammenstellung der Beiträge zum Thema Inklusion: dass es auch ganz andere Erfahrungen von Schülern und Eltern geben könnte als die aus dem Umkreis von "Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen", scheint tabu. – In zehn zwanzig Jahren heißt es vielleicht, die diesbezügliche Umsetzung der UN-Konvention sei an der Trägheit des Systems gescheitert. Es ist aber nicht das System, sondern bunte Realität vielfältigsten menschlichen So-seins. Ich bin nicht der einzige Sonderschullehrer, der nun schon über Jahrzehnte hin zig Schüler als Seiteneinsteiger in seine Schule hat kommen sehen, bei denen in unserm gescholtenen "geschützten Rahmen" das große existenzielle Aufatmen stattfand nach dem Motto "gemeinsamer Unterricht: nie wieder". Bei uns an der Schule findet auch "Gemeinsam Leben, gemeinsam Lernen statt", stellt euch mal vor. Vielleicht sogar mehr als bei Euch da draußen, sogar mit Sicherheit. Drehen wir den Spieß doch mal um: "Dass behinderte Kinder ab sofort das Recht haben, gemeinsam mit nicht behinderten Kindern eine allgemeine Schule zu besuchen", ist eine handfeste Diskriminierung, wenn nicht gleichermaßen das Gegenteil gilt, nämlich dass nicht behinderte Kinder das Recht haben, auf eine Schule zu gehen, in der Behinderte eben nicht in der Minderheit sin. Herr Füller, ob behindert oder nicht, kann jedenfalls gern bei uns hospitieren.

    Die Diskussion hat immer wieder ätzende Züge von Schildbürgerei und "Des Kaisers neue Kleider". Alle Menschen sind gleich, nämlich letztlich darin gleich, dass sie höchst verschiedene Individualitäten sind, worauf dann eben ihre Rechtsansprüche beruhen sollen. Aber worauf denn nun: auf der Gleichheit oder auf der Individualität? Das nennt man eben ein Paradox, und ein Paradox kann man entweder durch Tabuisierung auflösen, worauf die TAZ sich eingeschossen hat, oder eben durch Kreativität, wie sie die hunderttausenden Familien aufzubringen haben, sie sich nicht am grünen Tisch, sondern existenziell mit der Frage auseinandersetzen zu haben, was ihr Kind braucht.

    Ist der Rollstuhlfahrer diskriminiert, weil es extra für ihn eine Rampe gibt? Idiotische Frage. Aber sobald es aus dem Bereich körperlicher Behinderungen auf andere Formen menschlichen Andersseins übergeht, ist diese Idiotie unter Schreibtischtätern weit verbreitet.

    Das Umdenken findet im Kopf und im Herzen von Menschen statt, und nicht in UN-Sälen und an Schreibtischen. Ich z.B. arbeite an einer Waldorf-Förderschule, will heißen: da wird Wert darauf gelegt, dass im Zusammentreffen von Schüler- und Lehrerpersönlichkeiten Urphänomene menschlicher Beziehung geschehen, die den Wert alles Lernens begründen und gegenüber denen Schul- und sonstige Vorschriften zurückzutreten haben. Der Staat hat sich rauszuhalten, sagen wir. Aber auch andere Schulen haben ihr Berufsethos, mit dem sie sich gegen Vergewaltigung von oben wehren werden, und sei es, des Ermüdungsfaktors wegen, als "träge Masse".