: Mediziner in der Grauzone
Zur Pflicht des Arztes gehört es, die Gesundheit des Menschen zu fördern. Doch immer mehr Ärzte, die im Auftrag des Staates handeln, kommen in Konflikt mit dieser Regel. Sie verabreichen Brechmittel oder ordnen Zwangsuntersuchungen an
VON STEPHANUS PARMANN
Die Nachfrage nach Ärzten, die im Auftrag des Staates arbeiten sollen, steigt an. „Neben anderen Berufen im Gesundheitswesen sind insbesondere Ärztinnen und Ärzte einem zunehmenden Druck der Politik, der Ökonomie, des Rechtssystems und der Medien ausgesetzt“, so die Ärztekammer Bremen. Um Ärzte für die Grauzonen medizinischen Handelns zu wappnen, hat sie auf Initiative des Chefs des Bremer Gesundheitsamtes, Jochen Zenker, eine Fortbildungsreihe ins Leben gerufen mit dem Titel: „Wem dienen Ärzte? – Ärztliches Handeln zwischen politischen Zielsetzungen, Staatsgewalt, Fachlichkeit und Ethik“.
Nach ärztlichem Beistand wird gerufen, um beispielsweise Abschiebungen bei Flüchtlingen vornehmen zu können oder um Sozialhilfebetrüger zu überführen. Ärztliche Gutachten entscheiden darüber, ob jemand erwerbsfähig ist oder Sozialhilfe erhält. Und ärztliche Interventionen sollen helfen, vermeintliche Gesetzesbrecher zu überführen und Personen, die zu einer öffentlichen Gefahr werden könnten, zwangsweise in die Psychiatrie zu überführen.
Auch Winfried Beck, im Vorstand des Vereins demokratischer Ärzte und Ärztinnen, beklagt den staatlichen Druck auf die Ärzte und mahnt Diskussionsbedarf um die Grauzonen ärztlichen Handelns an, schon weil das „kein Thema in der Ausbildung junger Ärzte ist“.
In der Praxis sieht das so aus: Ärzte verabreichen vermeintlichen Drogendealern gefährliche Brechmittel, im Fachjargon „mexikanischer Sirup“ genannt, um verschluckte Drogenkügelchen als Beweismittel sicherzustellen. Sie führen bei Roma-Mädchen gegen deren Willen gynäkologische Untersuchungen durch, damit die Polizei einen Diebstahl nachweisen kann. Asyl suchende Jugendliche müssen sich für eine Altersbestimmung einer röntgenologischen Handwurzelknochenuntersuchung unterziehen. Und psychisch Kranke können auf Antrag des Ordnungsamts oder des Betreuers mit Hilfe eines ärztlichen Attestes auch sofort und mit nachträglicher richterlicher Genehmigung zwangseingewiesen werden.
Derlei medizinische Eingriffe haben mitunter tödliche Folgen: Anfang des Jahres starb in Bremen ein 35-jähriger mutmaßlicher Drogendealer, weil Ärzte ihm im Auftrag der Polizei das Brechmittels Ipecacuanha verabreichten. Bei vielen Ärzten hat das moralische Empörung ausgelöst. So hält der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, den Brechmitteleinsatz für medizinisch nicht sinnvoll. Schon im März 2002 mahnte er, auf den Einsatz von Brechmitteln zu verzichten: „Kein Arzt kann zur Teilnahme an diesen Maßnahmen gezwungen werden.“
Die Diskussion um ethisch angemessenes Handeln im Arztberuf hat nicht zuletzt Aufwind durch die Verstrickung von Ärzten bei Folterungen bekommen. Doch nicht immer ist die Grauzone ärztlichen Fehlverhaltens so leicht auszumachen wie im Fall der Beihilfe zu Folter oder der Bereitstellung der Todesspritze für Delinquenten in US-Gefängnissen. Dem ärztlichen Ethos gemäß verbieten sich solche Handlungen, die gegen den Willen eines Patienten durchgeführt werden, auch wenn sie rechtsstaatlich legitimiert oder legalisiert werden.
So heißt es in der Berufsordnung für Ärzte in Deutschland: „Aufgabe des Arztes ist es, das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und sich für die Erhaltung der Umwelt als Grundlage der Gesundheit einzusetzen. Der Arzt übt seinen Beruf nach den Geboten der Menschlichkeit aus. Er darf keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit seiner Aufgabe nicht vereinbar sind oder deren Befolgung er nicht verantworten kann.“
Auch die internationalen ethischen Kodizes sprechen eine eindeutige Sprache. So heißt es in der vom Weltärztebund verabschiedeten Deklaration von Helsinki: „Es ist die Pflicht des Arztes, die Gesundheit des Menschen zu fördern und zu erhalten. Der Erfüllung dieser Pflicht dient der Arzt mit seinem Wissen und Gewissen.“
1986 forderte der Weltärztebund im Sinne der beruflichen Freiheit, „staatliche und soziale Prioritäten außer Acht zu lassen“. Er räumte damit Priorität ein für die ärztliche Verantwortung gegenüber den Patienten und engte die Loyalität der Ärzte zum Staat ein. Staaten und ihre Regierungen allerdings werden nicht müde, die moralischen Kodizes der Ärzte zu unterlaufen.
„In einem schleichenden Prozess werden Ärzte zu Untaten sozialisiert“, warnt Robert Jay Lifton, prominenter US-Psychiater und Autor des Buches „Ärzte im Dritten Reich“, im renommierten New England Journal of Medicine. Auch Beck meint, man müsse frühzeitig die Grauzonen erkennen und sich davor hüten, Ärzte, die an Folterungen teilgenommen haben, als „ausgesprochen bösartige Menschen“ zu verteufeln. Im Laufe eines Sozialisierungsprozesses käme es zunächst zu einer Abwertung der Opfer. Ihr folge die Diskriminierung und die Überzeugung, dass sie schuldig seien. Parallel dazu seien Ärzte der Überzeugung, im Sinne der Bürokratisierung ihrer Rolle, „nur“ Handlungen ausgeführt zu haben, deren politische Hintergründe und Folgen sie nicht zu interessieren hätten.
Wie man die ärztliche Moral zu unterlaufen versucht, zeigt ein Gesetz, das im US-Bundesstaat Illinois verabschiedet wurde: Ärzte, die an der Todesstrafe mitwirken, indem sie die Giftspritze injizieren, sind für die Zeit der Mitwirkung von ihrer Berufsordnung entbunden. Und in Deutschland stimmen im Kampf gegen den Drogenhandel trotz aller Geschehnisse Politiker wie der CDU-Vizefraktionschef Wolfgang Bosbach oder der Landesvorsitzende der Bremer Gewerkschaft der Polizei, Horst Göbel, für die Verabreichung von Brechmitteln.
Doch auch wenn Brechmittel nicht gegen den Willen der Person verabreicht werden, ist der Einsatz umstritten. Denn ob es sich um vermeintliche Gesetzesbrecher oder Sozialhilfebetrüger handelt: „In all diesen Fällen stehen die Personen unter einem starken Druck von außen, der alles andere als eine freie Willensentscheidung oder das Bedürfnis nach ärztlichen Interventionen erwarten lässt“, urteilt Beck.