Medizin: "Junge Forscher riskieren nichts"
Entdeckungen geschehen meist unerwartet, meint Nobelpreisträger Sir Timothy Hunt. Dass Forscher Verträge mit der Industrie unterschreiben, hält er für falsch.
taz: Sir Timothy, wie hat der Nobelpreis Ihr Leben verändert?
Timothy Hunt: Man darf in einer Menge netter Hotels übernachten, hat keine großen Geldsorgen mehr und hält sich für übertrieben einflussreich.
Viele Nobelpreisträger beschweren sich, dass sie keine Zeit mehr für ihre Forschung haben. Zu Recht?
Ja, man soll immerzu Botschafter und Fundraiser für die eigene Wissenschaftsorganisation sein. Aber ich habe das einfach ignoriert und bin ins Labor zurück gegangen. Ich kann nur forschen, sonst nichts.
Für die Nicht-Biologen unter uns: Können Sie ganz einfach erklären, wofür Sie den Nobelpreis erhalten haben?
Biologische Theorien sind sowieso nicht schwierig. Denken Sie an Ihren Computer: Das wichtigste an jedem Programm ist, dass es eine Stop-Taste gibt, damit man nicht immer den ganzen Computer ausschalten muss, wenn sich das Programm aufhängt. Ich habe eine solche Stop-Taste in der Zelle entdeckt. Ich sah, dass ein Protein verschwinden muss, damit sich die Zelle korrekt teilt.
Sie arbeiten für die staatliche Krebsforschung in Großbritannien. Ist irgendwann mit einem Durchbruch zu rechnen?
Die Krebsforschung ist unglaublich voran gekommen, aber trotzdem sind wir noch sehr weit vom Ziel entfernt. Viele Kollegen denken, dass wir in der Molekularbiologie schon so viel wissen, dass man nur noch die Medizin dazu entwickeln muss. Ich hingegen glaube, dass wir noch nicht einmal die fundamentalen Fragen verstanden haben. Wir wissen fast nichts über das Wachstum von Zellen. Warum haben beide Beine die gleiche Länge? Warum wächst kein Fuß aus unserem Kopf? Oder warum behält unsere Nase immer die gleiche Form, obwohl sich jede einzelne Zelle ständig erneuert?
Aber es ist doch gelungen, alle menschlichen Gene zu entschlüsseln.
Wissenschaftler haben die Neigung, von jeder neuen Technik Wunderdinge zu erwarten. Jetzt glauben sie, die Sequenzierung des Genoms führe zu unglaublichen Erkenntnissen.
Und das ist falsch?
Na ja, teilweise ist es natürlich richtig, dass die Sequenzierung der Gene zu neuen Erkenntnissen fährt, sonst hätte man damit ja gar nicht erst angefangen. Nehmen Sie zum Beispiel sehr seltene Erbkrankheiten. Jetzt ist es einfach, die verantwortlichen Gene zu finden. Früher hätte das Hunderte von Wissenschaftler über Jahre beschäftigt. Trotzdem ist es nur eine Technik. Sie erklärt nicht, wie die Zellen funktionieren. Stellen Sie sich einen Mercedes vor: Das Besondere an diesem Auto verstehen Sie nicht, indem Sie alle Schrauben und Ersatzteile nummerieren. Wenn Forscher also nur eine Liste von Genen produzieren, dann ist das lächerlich.
Wenn die Gene nicht weiterhelfen - was dann?
Man muss versuchen, das Problem zu lösen, das der antike Philosoph Parmenides als erster erkannt hat: Wie entsteht Wandel? Wie werden Veränderungen stimuliert und kontrolliert? Was passiert etwa bei Krebszellen, die plötzlich vergessen, dass sie zu einer Lippe gehören, und stattdessen ungehemmt wachsen?
Wird ausreichend in die Krebsforschung investiert, um diese Fragen zu klären?
Es gibt genug Geld, aber die Verteilung funktioniert nicht perfekt. Ich finde, man sollte intelligente, kreative und ambitionierte Einzelforscher unterstützen. Ich bin gegen große Teams und strikte Hierarchien. Sie könnten mich elitär nennen.
Und was sagen die Geldgeber?
Sie fördern leider nach ganz anderen Prinzipien. Das "Framework Programme" der Europäischen Union verlangt zum Beispiel, dass die Wissenschaftler Verträge unterschreiben. Doch so funktioniert Forschung überhaupt nicht. Sie können doch keinen Vertrag über etwas abschließen, was noch unbekannt ist. Wichtige Entdeckungen geschehen meist völlig unerwartet. Es behindert die Forschung, wenn man Wissenschaftlern genau vorschreibt, wie sie vorgehen und dass sie mit der Industrie zusammen arbeiten sollen. Es hilft nichts: Die Förderinstitution müssen vertrauen. Am besten wären Stipendien für drei bis fünf Jahre.
Sie sitzen ja in vielen Auswahlkomitees für Stipendien. Welche Erfahrung machen Sie dort?
Ich bin oft ziemlich enttäuscht. Es werden nur sehr selten ehrgeizige oder aufregende Anträge eingereicht. Die meisten jungen Forscher gehen kein Risiko ein. Sie alle planen ihre Karriere - ich hasse das. Nehmen Sie zum Max Perutz, der die Struktur der Proteine entschlüsseln wollte. 15 oder 20 Jahre lang kam er nicht voran und veröffentlichte überhaupt nichts. Aber er hielt durch und hatte Erfolg. Ich muss allerdings zugeben, dass diese Art von Forschung heute gar nicht mehr gefördert würde.
Sie verlangen viel Durchhaltevermögen. Wollten Sie selbst irgendwann einmal aufgeben?
Ich hatte oft Angst zu scheitern. Forschung ist so schwierig. Man fühlt sich wie im totalen Nebel, weil man nicht weiß, welche Messergebnisse die entscheidenden sind. Und sobald man die Lösung hat, denkt man, was für ein Idiot man doch ist, weil man für dieses einfache Ergebnis so viele Jahre gebraucht hat.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN
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