Medien: Rauschen im Blättle-Wald
Der Kontext-Verein übernimmt mittels einer GmbH die Stadtteilzeitungen „Blättle Stuttgart-West“ und „Blättle Stuttgart-Süd“ – als Antwort auf die Lücken in der Stuttgarter Presse. Und als Signal, dass der Lokaljournalismus leben muss, wenn man ihn als eine Säule der Demokratie betrachtet.
Von unserer Redaktion↓
Warum macht ihr das? Zwei Anzeigenblätter übernehmen! Gemeinnützig kapitalistisch wohl. Immer so katholisch tun – und dann das! Darauf Antworten zu finden war nicht einfach, das haben die Diskussionen in der Redaktion von Kontext, im Vorstand des Vereins, der die Kontext-Wochenzeitung trägt, und bei zwei Mitgliederversammlungen gezeigt – bis wir am Ende zu einem einhelligen „Machen wir“ gekommen sind. Machen wir – mit einer vereinseigenen Tochtergesellschaft, um die „Blättle“ von der gemeinnützigen und werbefreien Kontext zu trennen.
Fangen wir mit dem Schönsten an: Die Mutter und der Vater der beiden „Blättle“ West und Süd, Christel Werner und Titus Häussermann, haben uns gefragt, ob wir ihre Nachfolge antreten wollten. Sie suchten nach „guten Händen“, seien jetzt alt genug für den Ruhestand und überzeugt, dass niemand anderes als Kontext ihr publizistisches Erbe pflegen solle. Und das bedeute, wie sie betonten, viel Herzblut in einen unabhängigen, verlässlichen und kritischen Journalismus zu stecken. Das war im Januar 2024.
Wir begannen die „Blättle“ aufmerksamer zu lesen und zu verstehen, dass diese Blätter aus Papier eigentlich gar keine Anzeigenblätter waren, sondern genau das, was Kontext mit Christel und Titus, die wir alsbald duzten, verband: die Freude an journalistischer Arbeit. Fortan sprachen wir nur noch von Stadtteilzeitungen.
Lob zum Abschied bis die Ohren glühen
Die beiden hatten es tatsächlich geschafft, zu einer Institution im Stuttgarter Westen und im Süden zu werden, 52.000 Einwohner:innen hier und 43.000 dort mit Informationen zu versorgen, die ihnen geholfen haben, sich in ihren Quartieren zurechtzufinden. In der Gewissheit, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen unterrichtet werden.
Wer nun die Zuschriften an Christel und Werner zum Abschied liest – vom Pfarramt über das Polizeirevier 3 bis zum hochdekorierten Schriftsteller, ganz zu schweigen von persönlichen Fans –, der erkennt, was sie für eine Stadtgesellschaft geleistet haben. „Ihr seid nicht mit Gold aufzuwiegen“, „Ihr habt einen tollen Job gemacht“, „richtig guter Lokaljournalismus“, „gegen den Mainstream der Lokalpresse“ – mit diesem Tenor trafen die Danksagungen beim „Blättle“ ein in einer Zahl, die den Gelobten rote Ohren machten. Nie in ihrem Leben, berichten sie immer wieder, sei ihre Arbeit so geschätzt worden. Auch nicht, als sie den Silberburg-Verlag leiteten, dem es an Reputation nicht mangelte.
Die Eckdaten der „Blättle“
Auflage: in Stuttgart-West 27.000, in Stuttgart-Süd 15.000 Exemplare. Umfang: Die gedruckte Ausgabe erscheint jeweils mit 24 Seiten. Erscheinungsweise: monatlich. Verteilung: Einwurf in Briefkästen der Stadtteile. Zusätzlich ausgelegt an etwa 250 Verteilpunkten wie Buchläden, Apotheken, Arztpraxen, Tankstellen und Bäckereien.
Die neue GmbH
Um die „Blättle Stuttgart-West“ und „Blättle Stuttgart-Süd“ herauszugeben und den Betrieb der gemeinnützigen und werbefreien Kontext-Wochenzeitung von den beiden anzeigenfinanzierten Stadtteilzeitungen zu trennen, gründet der Kontext-Verein eine eigene GmbH. Gesellschafter dieser Tochterfirma wird der Verein sein. So ist gewährleistet, dass die Gemeinnützigkeit der Kontext-Wochenzeitung unangetastet bleibt. (red)
Das Lob war hart erarbeitet: Titus Häussermann saß in so ziemlich jeder Sitzung des Bezirksbeirats. Im Westen wie im Süden. Da kam er nicht nur kurz vorbeigeschneit, wie es heute beim Pressepersonal üblich ist, wenn es überhaupt erscheint. Er blieb bis zum Schluss, um alles beieinander zu haben für einen langen, manchmal sehr langen Artikel, nach dessen Lektüre die Leute wussten, was in ihrem Viertel auf der Tagesordnung stand. Geschrieben mit Herz und Verstand, als bürgernahe Korrespondenz, die dem „Blättle“-Gespann zurecht den Titel „Nachrichtenhelden“ bescherte. Verliehen vom Bezirksbeirat West, von allen Fraktionen. Sie ehrten Christel Werner und Titus Häussermann zum Abschied mit einer selbst erstellten Sonderausgabe.
Nicht, weil ihnen nach dem Munde geschrieben wurde, sondern weil hier jemand war, der Kommunalpolitik verstand, Freude an der Begegnung hatte, am Miteinander, auch am strittigen – und damit ein wichtiger Teil von Öffentlichkeit war. Wenn Titus da war, wussten die Bezirksvertreter:innen, dass da einer genau hinschaute, dass die Fakten stimmten und sie kein Tiktok brauchten, denn: Man konnte sogar junge Menschen entdecken, die beim Bäcker zu den ausgelegten „Blättle“ griffen, obwohl sie aus Papier waren.
So gesehen war die Arbeit des Reporters Häussermann auch eine Antwort auf das Stuttgarter Pressehaus, das beschlossen hatte, die Öffentlichkeit von oben herab aus Möhringen zu betrachten, seine Stadtteilblätter einzustellen, im Lokalen zu kürzen, ausgenommen die Berichterstattung über Lokale. Gemeinderats- und Bezirksbeiratssitzungen seien „unsexy“ und generierten keine Klicks, wurde den Kommunalpolitiker:innen beschieden. Wenn sie sich dagegen wehrten, wie die fünf Landräte in der Metropolregion Stuttgart, die drei Millionen Einwohner zählt, ernteten sie bestenfalls Schulterzucken, die zum Kostensenken zwinge.
Die Landräte hatten Folgendes zu bedenken gegeben: „Schulen und Kindergärten, Straßenbau und ÖPNV, Firmenansiedlungen und Naturschutz, Stadtplanung, Freizeitangebote und Energiewende – das ist Sache der Kreise, Städte und Gemeinden. Damit die Bevölkerung versteht, was vor Ort geschieht, und sich darüber eine fundierte Meinung bilden kann, bedarf es einer umfassenden, sorgfältigen und ausgewogenen Berichterstattung. Kommunalpolitik braucht einen starken Lokaljournalismus.“ Stattdessen schauen sie auf leere Pressebänke (Brief vom 28.1.2022 an die Geschäftsführung der „Stuttgarter Zeitung“). Es lohnt sich, dazu den Kontext-Artikel einer freien Mitarbeiterin über das Verschwinden der Lokalpresse zu lesen.
Und hier sind wir beim Kern des Problems. Ohne diesen (Lokal-)Journalismus funktioniert die Demokratie nicht. Er muss die relevanten Informationen bieten, die Diskussion darüber in Gang halten, übergriffige Instanzen kritisieren und kontrollieren, seine eigenen Standards immer wieder überprüfen und Position beziehen. Gibt es ihn nicht, wie in weiten Teilen der USA, die keine Lokalzeitungen mehr kennen, gibt es noch mehr Umweltverschmutzung und Donald Trump. Werden sie weniger, wie im Osten Deutschlands oder auch in Baden-Württemberg, gibt es mehr AfD. Letzteres hat Kontext-Mitarbeiter Maxim Flößer im März in einer vielbeachteten Studie veröffentlicht.
Die „Blättle“ bleiben, wie sie sind
Und was bedeutet das nun für Kontext? Zunächst die Freude darüber, ab Februar 2025 mit den eigenständigen „Blättle“ fortsetzen zu können, was wir mit Kontext vor 13 Jahren begonnen haben: Journalismus im Dienste der Demokratie. Das ist der Sinn der Übung, und deshalb ist nichts neu zu erfinden, deshalb sollen die kleinen großen Stadtteilzeitungen im Kern bleiben wie sie sind. Scheinbar völlig anachronistisch auf Papier. In bürgerlichen Verlagen ist das „Bedrucken toter Bäume“ längst aus der Mode gekommen.
Zum Zweiten die Freude darüber, dass wir in Josef Schunder einen Kollegen gefunden haben, der für die „Blättle“ den Kopf hinhält und sie redaktionell betreut. Er hat viele Jahre für die „Stuttgarter Nachrichten“ und die „Stuttgarter Zeitung“ über die Kommunalpolitik berichtet, als das noch eine Aufgabe im Häussermannschen Sinne war. Soll heißen: Er weiß, dass eine Stadt nicht nur aus Fassbieranstich und Riesenrad besteht.
Zum Dritten den Auftrag, nicht beim Beklagen der Misere zu verharren, sondern etwas dagegen zu unternehmen. Die „Blättle“ werden durch Kontext weiterleben und damit tun, was andere (Verleger) nur in Sonntagsreden behaupten. Demokratie braucht das.
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