Mauerfall in Berlin: Warum die Wende zum Kotzen war
Auf eine Grundschülerin machte der 9. November 1989 Eindruck, weil er das Schwänzen legitimierte. Eine Geschichte von Gier und Gummibärchen.
Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Damals ging ich noch zur Schule. Schulkinder wissen immer, welcher Wochentag gerade ist, weil der Stundenplan jedem Tag bestimmte Eigenschaften verleiht. Donnerstage waren ätzend. Wegen Turnen, das mochte ich nie. Außerdem hab ich am Samstag, den 11. November, das erste Mal in meinem Leben die Schule geschwänzt.
in der gedruckten Berlintaz am Wochenende: Das Interview mit dem Mann, der die Mauer öffnete.
Schon am Freitag waren zwei Drittel der 4b „krank“, und als ich nachmittags nach Hause kam, sagte meine Mutter: „Wir gehen Omilein besuchen.“ Hä? Omilein war meine Westoma, meine Westuroma, um genau zu sein, die Oma meines Vaters. Sie war 89 Jahre alt, wohnte in diesem sagenumwobenen Westberlin und kam oft zu Besuch zur Johannisthal-Oma. Omilein KAM zu Besuch, aber man GING sie nicht besuchen. Normalerweise.
„Pack dir einen Schlüpper und einen Nicki zum Wechseln ein und deine Zahnbürste“, rief meine Mutter vom Telefon her. Sollte ich am Ende da übernachten? Bei Omilein? Im Westen?
Mein Begrüßungsgeld holten wir an der Friedrichstraße. 100 Westmark, die meine Mutter gleich in Winterstiefel fürs Kind investierte, das nehme ich ihr bis heute übel.
Und dann standen wir da am blinkenden Ku’damm und wussten gar nicht, wie wir jetzt zu Omilein kommen sollten. Es war 28 Jahre her, dass meine Mutter zuletzt auf dem Ku’damm gestanden hatte. Da war sie zehn Jahre alt gewesen. Und bei Omilein selbst war sie nie gewesen, war ja ihre Schwiegeroma schließlich, ihre geschiedene Schwiegeroma, um genau zu sein.
Sie fragte einen Taxifahrer, wie wir in die Halberstädter Straße kämen. „In Westberlin!“, mischte ich mich ein. Schließlich musste dem Mann jemand erklären, was Sache ist. „Da wohnt nämlich Omilein“, ließ ich ihn wissen, „sie ist meine Uroma, die Oma von meinem richtigen Vater. Bei der soll ich heute schlafen. Ich hab auch noch einen Papa, der Mann von Mama, der hat sogar zwei Omas, die wohnen in Henningsdorf.“ Der Taxifahrer lachte und chauffierte uns kostenlos bis vor Omileins Haustür.
Am Samstag, den 11. November, saß ich in Charlottenburg am Frühstückstisch und nicht in der Schule. Später kam ein Freund meines Vaters zu Besuch, der vor Jahren „rübergemacht“ hatte.
Vermutlich fragte er mich, was ich mir von meinem Westgeld gekauft hätte. Ich fing an zu heulen und erzählte, wir hätten „was Praktisches“ gekauft, jedenfalls fand ich mich kurz darauf in Begleitung des mir einigermaßen fremden Mannes in der Süßwarenabteilung im Kaisers um die Ecke wieder, wo Rainhardt (so hieß er nämlich, jetzt weiß ich’s wieder) – wo Rainhardt verkündete – und daran erinnere ich mich nun aber GANZ genau, das vergess ich mein Lebtag nicht –, ich dürfe mir jede Süßigkeit aussuchen, die ich haben wolle, er würde alles bezahlen.
Stellt euch Ali Baba vor beim Anblick des Räuberschatzes! Oder Aschenputtel bei ihrer Ankunft auf dem Königsschloss! Vielleicht bekommt ihr dann eine ungefähre Vorstellung dieses überwältigenden Gemischs aus Glück und Gier, das mich im Angesicht dieser Fülle von Süßigkeiten überkam. Kinderschokolade, Gummibärchen, Nutella, Ferrero Rocher!
Es ist wohl unnötig zu erzählen, dass ich ab Montag, den 13. November 1989, drei Tage mit Magenverstimmung im Bett lag. Ist auch egal. Ich war nie so glücklich, während ich in einen Eimer kotzte.
Der Westen war ausgebrochen! Von nun an würden wir überallhin mit dem Taxi fahren, ohne zu bezahlen, wir würden uns nur noch von Schokolade ernähren und wir müssten nie wieder zur Schule gehen. Für immer! Wahnsinn.
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