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Mathias Wagner über polnische Wanderarbeiter„Der Statusgewinn entschädigt"

Sozialgeograf Mathias Wagner hat die Motive polnischer Erntehelfer untersucht und beobachtet, dass deren Interesse mit steigendem Lebensstandard zurückgeht.

Mindestlohn könnte sie attraktiver machen: Spargelernte. Bild: dpa
Interview von Petra Schellen

taz: Herr Wagner, woher kommen Deutschlands Erntehelfer?

Mathias Wagner: 80 bis 90 Prozent von ihnen sind Polen. Die anderen kommen aus Rumänien, Bulgarien und den baltischen Staaten.

Warum sind es so viele Polen?

Das hat historische Gründe. Die befristete Migration von Polen nach Deutschland zu Erntearbeiten hat eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Schon damals gab es viele Wanderarbeiter, die nach Westen gingen. Dafür gibt es im Polnischen sogar einen Begriff. Man sagt: „Na saksy“, nach Sachsen gehen. Im Deutschen spricht man von „Sachsengängerei“, weil Sachsen im 19. Jahrhundert eins der Hauptziele polnischsprachiger Wanderarbeiter war.

Warum entstand diese Tradition ausgerechnet zwischen Polen und Deutschland?

Aufgrund des starken Wohlstandsgefälles, das bis heute existiert – auch wenn es sich seit Polens Beitritt zur EU 2004 sukzessive vermindert. Außerdem bevorzugen die Landwirte polnische Saisonarbeiter, weil sie als pflegeleicht gelten.

Wie werden sie angeworben?

Bis zur Öffnung des EU-Arbeitsmarkts 2011 waren formal die Arbeitsämter zuständig. Tatsächlich erfolgte die Anwerbung aber über polnische Vermittler.

Im Interview: Mathias Wagner

58, Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni Bielefeld. Er leitet das deutsch-polnische Forschungsprojekt "Wanderarbeit als Alltagspraxis. Soziokulturelle Effekte saisonaler Migration in lokalen Gesellschaften".

Was sind das für Menschen?

Das kann zum Beispiel jemand sein, der nach der Wende als Wanderarbeiter nach Deutschland ging. Nach und nach hat er ein bisschen Deutsch gelernt. Der Landwirt fasste Vertrauen zu ihm, weil er gut arbeitete, und bat ihn wiederzukommen – und im nächsten Jahr zehn weitere verlässliche Arbeitskräfte mitzubringen. Der Landwirt könnte diese Arbeiter natürlich auch beim Arbeitsamt anfordern. Aber die kennt er nicht. Also legt er dem Arbeitsamt lieber die Namen derer vor, die ihm sein Anwerber genannt hat, und lässt sie genehmigen.

Wer kommt eigentlich zur Saisonarbeit? Ungelernte?

Ganz und gar nicht. Auch Arbeitslose bilden nur einen kleinen Teil. Mindestens 50 Prozent der Erntehelfer haben einen festen Arbeitsplatz in Polen. Das reicht von Facharbeitern über Lehrer bis zu IT-Spezialisten und Absolventen anderer Studiengänge.

Finden diese Menschen es nicht frustrierend, dass sie so überqualifiziert sind?

Das wird nicht so zum Thema gemacht. Denn mit dem Geld, das sie in Deutschland verdienen, können sie in Polen einen weit höheren Lebensstandard erreichen, als es mit einer gleichartigen Arbeit in Polen möglich wäre. Sie können sich zum Beispiel ein Haus bauen. Dieser Statusgewinn entschädigt dafür, dass sie hier unter einfachsten Bedingungen im Niedriglohnsektor arbeiten.

Wie viel mehr verdienen die Wanderarbeiter hier?

In der Akkordarbeit zur Erntezeit kann es mit 2.000 Euro durchaus das Neunfache dessen sein, was sie in Polen verdienen.

Es werden also stets korrekte Tarife gezahlt?

Flächendeckend sicherlich nicht. Für unsere Forschungen haben wir einen Familienbetrieb und einen Großbetrieb untersucht, und beide boten passable bis gute Bedingungen; alles blieb im rechtlichen Rahmen. Wir haben aber auch einen mittleren Betrieb mit 200 Saisonkräften vorgefunden, der schlechte Bedingungen bot. Ich vermute aber, dass sich das mittelfristig über den Markt regulieren wird.

Inwiefern?

Je mehr der Lebensstandard in Polen steigt, desto geringer wird das Interesse an Erntearbeiten in Deutschland sein, das außerdem mit anderen EU-Ländern konkurriert. Da die Landwirte aber auf Erntehelfer angewiesen sind, werden sie die Standards anheben müssen. Das ist bislang nur ein leichter Trend, aber ein statistisch messbarer. In Schlesien werben deutsche Landwirte schon vereinzelt mit Vierfarbbroschüren.

Wenn das so ist, brauchen wir ja gar keinen Mindestlohn.

Der Mindestlohn bezieht sich ja nicht nur auf die Landwirtschaft. Bei unserer Untersuchung 2011 lag der Tariflohn in der Landwirtschaft bei rund 6,70 Euro pro Stunde. Erntearbeiten werden aber nur in der Anfangs- und Endphase der Ernte nach Stunden bezahlt. Meist wird im Akkord gearbeitet, wobei der Akkordlohn 20 Prozent über dem Tariflohn liegen muss. Nur ist das für die Arbeiter schwer zu kontrollieren, weil sie die Vorschriften meist nicht genau kennen. Ein Mindestlohn auch für Wanderarbeiter in der Landwirtschaft würde sicher bewirken, dass die Attraktivität solcher Arbeit zumindest kurzfristig stiege. Was auch im Interesse der Landwirte wäre.

Wer überwacht bislang die Einhaltung der Tariflöhne?

Bis zur EU-Marktöffnung und Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. 5. 2011 waren die Arbeitsämter für die Vermittlung und für die Einhaltung der rechtlichen Bedingungen zuständig. Damit gab es zumindest formal eine Kontrollmöglichkeit. In der Realität haben die Arbeitsämter nur kontrolliert, wenn sie auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen wurden. Das erfolgte selten. Und seit Mai 2011 sind die Arbeitsämter ganz außen vor, sodass die Einhaltung der Rechtsvorschriften den Landwirten selbst obliegt.

Klagen viele Saisonarbeiter ihre Rechte ein?

Dafür müsste es ihnen erst mal auffallen, und sie müssten es geltend machen können. Da gibt es aber einerseits die Sprachbarriere. Andererseits dauert ein Einsatz vier bis sechs Wochen. Das ist ist ein so kurzer Arbeitszeitraum, dass man geneigt ist, nicht so genau hinzugucken – solange man mit dem Gesamtergebnis zufrieden ist. Außerdem besteht bei einer Beschwerde die Gefahr, dass man seinen Arbeitsplatz für die nächste Saison verliert.

Haben die Bauernverbände kein Interesse an der Überwachung der Standards?

Aus meiner Erfahrung nur dann, wenn sie auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen werden. Aber ich wüsste nicht, dass verbandsintern auf Eigeninitiative kontrolliert wird.

In Polen wächst ja auch Spargel. Wer sticht den?

Spargel spielt in Polen keine Rolle, weil er kein begehrtes Gemüse ist. Erdbeeren dafür umso mehr. Und es gibt natürlich auch Einheimische, die aus persönlichen Gründen nicht weggehen und für wenig Geld vor Ort ernten. Teils verrichten aber auch Ukrainer diese Arbeiten, auch in Hauswirtschaft und Pflege – so wie es die Polen in Deutschland tun.

Und wenn sie es nicht mehr tun?

Durch das mittelfristig schwindende Interesse der Polen an Saisonarbeit entsteht für die Landwirtschaft tatsächlich ein Problem, denn diese Arbeitskräfte können nicht durch Einheimische ersetzt werden – das Experiment mit deutschen Arbeitslosen vor einigen Jahren glückte nicht. Auch glauben die Landwirte nicht, dass Erntehelfer aus Rumänien und Bulgarien die Lücke schließen können. Sie setzen deshalb starke Hoffnungen auf Arbeitskräfte aus der Ukraine.

Wanderarbeit belastet auch die Familien; viele Polen sind bis zu zehn Monate pro Jahr in Deutschland. Wie verkraften ihre Kinder das?

Wir haben das in niederschlesischen Gemeinden untersucht, die zwei, drei Autostunden von der deutschen Grenze entfernt lagen. Ein Viertel der Schüler kam aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil regelmäßig im westlichen Ausland arbeitete. Oft wurden mehrere Saisonarbeiten kombiniert – oder man hatte langfristige Arbeitsverträge, sodass man nur am Wochenende nach Hause kam. Das betrifft zu 95 Prozent einen Elternteil. Nur in wenigen Fällen sind beide Elternteile Wanderarbeiter, sodass die Kinder von Verwandten betreut werden.

Wirkt das nicht traumatisierend auf die Kinder?

Fernpendeln ist immer eine Belastung für die Familie, die sich pathologisch auswirken kann. Und Lehrer und Schulsozialarbeiter haben uns bestätigt, dass es gerade bei Kindern in der Grundschule zu starken Verhaltensänderungen kommen kann.

Hat man die Kinder mal gefragt?

Ja, vor einigen Jahren haben Forscher in Oberschlesien junge Leute von Mitte, Ende 20 befragt, die das als Kindheits- und Jugenderfahrung hatten. Tendenziell haben sie gesagt: Der materielle Gewinn hat die emotionale Belastung nicht aufgewogen.

Und wie steht es um die Integration der Eltern während ihrer Deutschland-Aufenthalte?

Schwierig. Erstens sprechen die meisten kein Deutsch. Wer in der Landwirtschaft arbeitet, hat außerdem ein Zeitproblem: Wenn man bis 20 oder 21 Uhr auf dem Feld arbeitet und nächsten Tag um sechs Uhr wieder anfängt, bleibt wenig Zeit. Allerdings kenne ich auch Polen, die seit Jahren regelmäßig in einem Forstbetrieb im Schwarzwald arbeiten und inzwischen in die dörflichen Feste einbezogen werden.

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