Massensturz bei der Tour de France: Crashituri te salutant
Der Massensturz der Tour de France ist ein guter Anlass, als Zuschauer wie als Chronist, die eigene Lust am Spektakel des Leidens zu hinterfragen.
Ist das noch Chronistenpflicht, fragt man sich selbst beim Sehen dieser Bilder, auch beim Schreiben dieser Worte? Oder ist man nicht schon selbst in ein Spektakel eingebunden, das vom Blut sich nährt, vom Leiden, und das die extreme Dosis braucht als Auslöser für eine Regung, eine Sensation, verstanden als basalen Sinnesreiz?
Die Kameras – Dokumentar- wie Spektakelinstrumente – fangen auch ein, wie eine Zuschauerin sich nicht entblödet, ein Autogramm von dem gerade auf sein Rad steigenden Fabian Cancellara zu holen. Der Mann im gelben Trikot war ebenfalls in den Sturz verwickelt. Der König der Tour im freien Fall; Spartacus ist sein Spitzname wegen seines für einen Radsportler ungewöhnlichen Muskelpakete, er ist ein Herkules unter den spacken Beinarbeitern.
Dieser Spartacus ruft die Erinnerung an seinen Namensvorgänger, den Gladiator, auf. Der musste mit seinen Berufskollegen unter den Augen von Zehntausenden kämpfen. Sie mussten sich gegenseitig metzeln und nach überlebter Schlacht noch darauf warten, ob der Daumen des hochrangigsten Regierungsvertreters im Stadion nach oben unter unten zeigte.
Der Sturz: Etwa bei Kilometer 68 der dritten Tour-Etappe stürzte William Bonnet bei einer Geschwindigkeit von rund 42 km/h und über 20 weitere Fahrer mit.
Die Folgen: Mehrere Sportler mussten verletzt aus der Tour aussteigen. Neben Bonnet traf es unter anderem Tom Dumoulin und auch den Träger des gelben Trikots Fabian Cancellara. Neuer Gesamt-Erster ist nun Chris Froome, der Sieger von 2013.
Die Pause: Anschließend wurde die Etappe für zehn Minuten unterbrochen. Eine derartige sogenannte Neutralisation gab es erst zum fünften Mal in der Tour-Geschichte. Mehrere Teamchefs kritisierten die Entscheidung als unverhältnismäßig.
Der Daumen allerdings war nicht nur vom Herrscherhirn gelenkt, sondern auch von der Stimmung in der Arena, auf den Rängen. Herrschte dort Blutdurst? Oder war der gestillt, sodass Besinnung, Langmut, Gnade einen Weg fand, sich in den Gemütern auszubreiten?
Zurück im römischen Imperium
Mit den Ereignissen der dritten Etappe der Tour de France sind wir wieder in den Tagen des römischen Imperiums angekommen. Wir sind global vernetzt, die Reaktionen schießen von flämischen Landstraßen nach Berlin, nach London und Tokio.
Die Rolle des Gnadengebers, des imperatorischen Daumens, haben die Arme des Tourdirektors Christian Prudhomme übernommen, der hier mal Gnade walten ließ und das nervöse, erschöpfte Feld anhielt, in dem es dennoch brodelte. Es waren Fahrer darin, die einfach weitermachen wollten, die ungehalten waren über den Stopp, von animalischem Kampfeswillen durchströmt. Von Schaulust waren all die erfüllt, die die Augen nicht von den Bildern brachten.
Die sportlichen Leiter schließlich brachten die Härte von Veteranen ein, die das Anhalten lachhaft fanden, die sich an viel größere Gemetzel erinnerten – damals, vielleicht noch ohne Fernsehen, nur in grob gerasterten Schwarz-Weiß-Aufnahmen überliefert.
Die Frage stellt sich, wohin ist der Sport gekommen, die Wahrnehmung des Sports. Noch eine Frage stellt sich: Hat in der Betrachtung des Straßenradsports die Faszination am Leid, am Schmerz, am Verunfallen und am Kitzel der Gefahr eine andere, ebenso dunkle Passion abgelöst? Die Dopingskandale nämlich, die Lust am Erkunden der kriminellen Zonen des Betrugs, die Sensation an der menschlichen Tragödie, wenn aus Idolen Verräter werden, von denen die Ärmsten sogar mit dem Leben bezahlen.
Schaulust statt Doping
Um Grenzzustände ging es auch dabei. Doch seit das Doping eingehegt, auf Mikrodosen reduziert, seit Epo nicht mehr gespritzt – ganz böse! –, sondern nur noch geschluckt zu werden braucht und neue Präparate nicht mehr Substanzen transportieren, sondern nur noch den Substanzenproduktionsapparat im eigenen Körper steuern, seit Doping also kulturell gebremst ist in diesem Sport, und manch einer wohl auch gar nicht mehr dopt, seitdem sucht sich die Schau-, die Erschau- und die Erschauerlust offenbar andere Wege.
Es liegt am Publikum zu entscheiden, an diesem Lustkonstrukt durch Rezeption beglaubigend mitzuwirken. Es liegt an den Machern, auch dieses Problem vielleicht einzuhegen, das Fahrerfeld zu verkleinern, die Sturzzonen aber zu erweitern. Auch Berichterstatter müssen Chronisten- und Spektakelanteile wieder besser abzuwägen lernen.
Und nicht zuletzt liegt es an den Protagonisten zu entscheiden, in welchem Maße sie ihre Haut zu Markte tragen wollen. Spartacus und Kollegen stiegen, wie man in der Schule lernt, aus dem Zirkus aus und erschütterten ein Weltreich. Was machen der aktuelle Träger dieses Namens und seine heutigen Kollegen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört