Massaker von Paris vor 60 Jahren: Tote am Ufer der Seine
Ein Massaker an Algeriern in Paris und die radikale Solidaritätsbewegung der Adenauer-Ära: Beides gehört in unser antikoloniales Gedächtnis.
E in Massaker der Polizei auf den Straßen von Paris? Unvorstellbar. Und doch war es so, vor ziemlich genau 60 Jahren, als der Algerienkrieg in seine finale Phase trat. Nach einer friedlichen Demonstration für die Unabhängigkeit der Kolonie lagen Leichen am Ufer der Seine, gefesselte Leichname. Die Zahl der Toten, wohl über Hundert, wurde niemals genau ermittelt; es waren, fast überflüssig zu sagen, algerische Tote.
Nicht nur an sie möchte ich hier erinnern, sondern an eine Bewegung in Westdeutschland, die jenem blutigen Oktobertag 1961 bereits lange vorausging: radikale Solidarität mit dem algerischen Befreiungskampf – in den 1950er Jahren, der muffigen Adenauer-Ära. Es war die erste internationalistische Bewegung nach dem Ende des Nationalsozialismus.
Die Schar der Aktivisten war überschaubar, Frauen und Männer in kleinen heterogenen Gruppen: Gewerkschafter, Intellektuelle, Kommunisten, Trotzkisten, Naturfreunde, engagierte Christen, darunter ein paar Katholiken mit CDU-Parteibuch. Sie schmuggelten Geld und Waffen für die Befreiungsfront, brachten Algerier, die aus Frankreich fliehen mussten, nachts im Kofferraum über die Grenze.
Manche halfen, in Marokko eine geheime Waffenproduktion aufzubauen, getarnt als Orangenplantage, und in Osnabrück flog der Versuch auf, durch die Herstellung von Hunderttausenden gefälschter Franc-Scheine in Frankreich eine Bankenkrise heraufzubeschwören. All das wirkt vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Nierentisch-Ambientes gleichfalls unglaublich. Womöglich wurde damals der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung auf Nordafrika projiziert, aber was tut das zur Sache?
hat sich als Reporterin vor allem mit muslimischen Gesellschaften befasst. Letztes Buch: „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“.
Algerien, so beschrieb es Claus Leggewie, bot „die Partitur, mit der man in den pathetischen Orgelton der verordneten deutsch-französischen Aussöhnung ein paar antikoloniale Töne einmischen konnte“. Dokumente der Befreiungsbewegung lasen die Westdeutschen übrigens manchmal in Übersetzungen, die aus der DDR kamen. Das Wissen und die Erfahrungen eines früheren Antikolonialismus sind heute aus mehr als einem Grund verschüttet – aber muss das so bleiben?
Ich selbst verdanke Details zur Algerienbewegung dem Buch „Hoch die internationale Solidarität“ der Journalisten Werner Balsen und Karl Rössel, es erschien vor schlanken 25 Jahren. Als das Werk aus einem antiquarischen Versand bei mir eintraf, war es bestückt mit diversen bräunlichen Zeitungsausschnitten. Das wird aus einem Nachlass sein, ging mir durch den Kopf: Ich halte das Buch eines Toten in der Hand.
Was aber haben wir seit damals gewonnen, was verloren? Als Frankreich in Algerien folterte und massenhaft internierte, war die Erinnerung an den Nationalsozialismus noch frisch. Manche französischen Intellektuellen, die sich auf die Seite des Befreiungskampfes stellten, hatten in deutschen KZs gelitten. Und sie sagten über die Lager, die Frankreich in Algerien einrichtete: „Müssen wir uns damit trösten, dass es in diesen Lagern weder Gaskammern noch Krematorien gibt?“
Solidarität von Ex-KZ-Häftlingen
Später stellte sich heraus: Der für das Massaker in Paris verantwortliche Polizeipräfekt hatte zur NS-Zeit für das Vichy-Regime an der Deportation französischer Juden mitgewirkt. Multidirektionale Erinnerung mag erst in jüngerer Zeit auf diesen Begriff gebracht worden sein, doch existiert sie seit Langem, hat sich den Zeitgenossen von Geschehnissen aufgedrängt, und der Algerienkrieg ist dafür ein herausragendes Beispiel.
1961, im Jahr des Massakers von Paris, begann in Jerusalem der Eichmann-Prozess, wurde die Spezifik der Shoah vor den Augen der Welt verhandelt. Niemand setzte sie mit den Verbrechen in Algerien gleich, wohl aber wurden Kolonialismus und Nationalsozialismus in Beziehung zueinander gesehen. Jean-Paul Sartre notierte bereits in den 50er Jahren, in der Kolonie würden junge Franzosen gezwungen, „für Nazi-Prinzipien ihr Leben zu lassen, gegen die wir vor zehn Jahren gekämpft haben“.
Und: „1945 haben wir all die falschen Naivitäten, die Ausflüchte und Unaufrichtigkeiten, das Schweigen und die Komplizenschaft als Kollektivverantwortung angesehen. Wir haben den Deutschen das Recht abgesprochen, zu behaupten, dass sie nichts von den Lagern gewusst hätten. ‚Ach was!‘, sagten wir. ‚Sie wussten alles!‘ Und wir hatten recht: sie wussten alles. Erst heute können wir etwas verstehen: Denn auch wir wissen alles.“
Hans Magnus Enzensberger nahm diese Assoziationen später im deutschen Kontext auf; wer dem Horror in der französischen Kolonie tatenlos zusah, mache sich mitschuldig. Auch in der deutschen Algerienbewegung gab es vormalige KZ-Häftlinge. Der Kommunist Winfried Müller wurde unter dem Tarnnamen Si Mustapha zur Schlüsselfigur, um deutsche Söldner, die in der französischen Fremdenlegion am Algerienkrieg beteiligt waren, zur Desertion zu bewegen.
Sie mussten dafür ihre Waffen mitnehmen und sie an die Befreiungsfront übergeben. Si Mustapha, der das organisierte, war selbst ein Wehrmachtsdeserteur gewesen. Verflochtene Geschichten; das ist heute ein Sujet, darüber werden kluge Texte geschrieben. Ob früher mehr gehandelt wurde? Beim Blättern im vergilbten Buch über die Solidarität vergangener Zeiten blieb ich dann noch an einem Foto hängen, Westberlin 1964, es ging um imperialistische Machenschaften im Kongo.
Schwarze und weiße Studenten (männlich) demonstrierten Seite an Seite, sie trugen sehr korrekt wirkende Stoffmäntel und Lederschuhe, was sie nicht hinderte, eine Polizeikette zu durchbrechen. Wie haben sie einander damals betrachtet? Man definierte sich über einen gemeinsamen Gegner, es zählten Interessen, nicht Identitäten. Die Analysen waren eher holzschnittartig, und individuelle Verstrickung in Rassismus wurde geflissentlich übersehen.
Aber da war etwas, für das wir heute nicht einmal mehr ein Wort haben.
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