Massaker-Überlebende über Argentinien: „Argentinien trägt Verantwortung“
Laura Ginsbergs Mann wurde beim Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum Amia vor 30 Jahren getötet. Bis heute kämpft sie um Aufklärung.
taz: Frau Ginsberg, wir wissen, dass bei dem Anschlag vor 30 Jahren 85 Menschen getötet wurden, darunter auch Ihr Mann, und dass über 300 Menschen verletzt wurden. Aber über das Wer, Wie und Warum gingen unmittelbar nach dem Anschlag die Meinungen, Informationen und Aussagen auseinander.
Laura Ginsberg: Ja, all das spiegelt sich in den 30 Jahren seit dem Anschlag wider. Ich weiß nicht, wer letztlich den Auslöser der Bombe betätigt hat. Wir, die Familienangehörigen der Opfer, wollen verstehen, was passiert ist und in welchem Kontext es möglich war, dass eine zweite Bombe in Buenos Aires explodieren konnte. Sobald wir darüber Klarheit haben, werden wir auch das Warum herausfinden.
Zwei Jahre vorher war in der israelischen Botschaft in Buenos Aires eine erste Bombe explodiert. Dabei wurden 29 Menschen getötet. Wie war die Lage nach diesem Anschlag?
Auch der Anschlag auf die israelische Botschaft wurde von vielen bereits als antijüdischer Angriff begriffen. Da aber Botschaften symbolisch zu einem anderen Land gehören, kam es vielen so vor, als handelte es sich um eine Tat, die ganz woanders stattfand. Als zwei Jahre später die Amia in die Luft gesprengt wurde, war das komplett anders. Da gab es keinen Zweifel, dass es sich um einen antijüdischen Anschlag handelte, und er hatte eine nationale Dimension.
Laura Ginsberg
ist Mitglied der Gruppe zur Aufklärung des ungesühnten Massakers der Amia (Apemia), einer 2002 von Familienangehörigen und Freunden der Opfer gegründeten zivilen Stiftung.
Warum zweifeln Sie daran, dass ausländische Drahtzieher hinter den Anschlägen stecken?
Es gibt keine Beweise für die Behauptung, dass Iran, Syrien, die Hisbollah, der Libanon oder Pakistan für den Anschlag auf die Amia verantwortlich sind. Ich nenne ein Beispiel. Im Jahr 2003 wurde der von Interpol mit Haftbefehl gesuchte Iraner Soleiman Pur in England wegen seiner angeblichen Beteiligung an dem Anschlag festgenommen. Soleiman Pur war der iranische Botschafter in Argentinien, als der Anschlag verübt wurde. England forderte von der argentinischen Regierung Beweise für eine mögliche Auslieferung oder einen Prozess. Alles, was die argentinische Regierung schickte, führte jedoch nicht nur dazu, dass Soleiman Pur freigelassen werden musste, sondern auch, dass Argentinien ihm eine Entschädigung zahlen musste.
Dazu würde passen, dass sich bis heute niemand des Anschlags auf die Amia bezichtigt.
Ja, niemand hat gesagt: „Wir waren es.“ Stattdessen gab es Organisationen, die sehr schnell erklärten, sie waren es nicht. Die erste Verurteilung des Anschlags kam von der PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation, die zu dieser Zeit sehr aktiv war. Nur wenige Tage später erklärte die Hisbollah, dass sie nichts mit dem Anschlag zu tun habe. Beide Erklärungen finden sich in den Telexen, die die staatliche argentinische Nachrichtenagentur Telam nach dem Anschlag verschickte und die wir kürzlich auswerten konnten.
Warum wird immer Iran als Verantwortlicher genannt?
Alle Anschuldigungen gegen Iran und die Hisbollah kamen aus dem Ausland. Die gegen Iran kamen ganz schnell aus dem Mund des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin und seines Außenministers Schimon Perez. Beide beharrten darauf, dass die Bombe von den Iranern gelegt wurde. Auf dieser Grundlage wurde das Narrativ aufgebaut, das Iran zum Drahtzieher des Anschlags erklärte. In Argentinien wurde dies in den ersten Wochen gar nicht auf diese Weise erklärt.
Jahrestag: Am Donnerstag jährt sich der Bombenanschlag auf das Gebäude der jüdischen Hilfsorganisation Amia (Asociación Mutual Israelita Argentina) in Buenos Aires zum 30. Mal. Es handelt sich um den blutigsten Anschlag, der jemals in Argentinien verübt wurde. Bislang hat sich niemand dazu bekannt.
Aufklärung: Eines der Todesopfer war José Ginsberg. Der damals 43-Jährige war Leiter der Abteilung für Bestattungen und Friedhöfe bei der Amia. Laura Ginsberg war 36 Jahre alt, ihr Sohn 12 Jahre und ihre Tochter 18 Monate. Seit dem Anschlag engagiert sie sich für Aufklärung.
Vertuschung: Im Juni dieses Jahres hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (Corte IDH) den Staat Argentinien wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht und wegen Vertuschung des Anschlags von 1994 verurteilt. „Das Versäumnis des Staates, seine Ermittlungspflicht zu erfüllen, die ungerechtfertigten Verzögerungen im Verfahren und allgemein die fehlende Aufklärung und die Situation der Straflosigkeit haben bei den Familien der Opfer Gefühle der Angst, Trauer und Frustration hervorgerufen,“ erklärte das Gericht. Für den Terroranschlag selbst wurde bisher allerdings noch niemand verurteilt. (juevo)
Wer also ist dafür verantwortlich?
Der argentinische Staat. Es gab nie eine echte Untersuchung. Stattdessen wurde die ganze Kraft des Staatsapparates eingesetzt, um genau das zu verhindern. Die Ermittlungen wurden in falsche Bahnen gelenkt. Es wurden Versionen und Anschuldigungen untergeschoben, mit denen Anklagen konstruiert wurden, für die bis heute keine Beweise vorgelegt wurden.
Hinter alldem steckt der argentinische Staat?
Wir haben das schon 1997 bei der Gedenkveranstaltung zum dritten Jahrestag angeprangert. Damals waren wir noch eine Gruppe, und wir waren uns alle einig. In unserer Erklärung wiesen wir auf die Verantwortung der nationalen Regierung hin und beschuldigten öffentlich den damaligen Präsidenten Carlos Menem, den zuständigen Ermittlungsrichter und die Polizei der Provinz Buenos Aires der Vertuschung. Das löste ein großes Medienecho aus. Daraufhin begannen die Regierung und die Führungsgremien der Amia und des jüdischen Dachverbands Daia, die Familienangehörigen zu spalten. Das ist ihnen auch gelungen. Heute gibt es Apemia, die Gruppe Memoria Activa und eine Gruppe, die der Amia und der Daia nahesteht.
Wodurch unterscheidet sich Apemia von den anderen Gruppen?
Wir können von einem Staat, der für die Vertuschung verantwortlich ist, keine Gerechtigkeit und Aufklärung erwarten. Wer vertuscht, schützt die Täter. Vor wenigen Wochen hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte unsere Auffassung bestätigt. In einem Urteil stellte der Gerichtshof fest, dass der argentinische Staat seine Institutionen zur Vertuschung einsetzte und Ermittlungen vorsätzlich in die Irre führte, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt. Das Urteil ist immens wichtig, denn nun sind es nicht mehr nur wir, die dies anprangern, sondern ein internationales Gericht hat es bestätigt.
Das Gericht hat den argentinischen Staat außerdem angewiesen, alle Hindernisse zu beseitigen, die einer Aufklärung im Wege stehen, was vor allem die Öffnung der Geheimdienstarchive bedeutet.
In den letzten Jahren hat es bereits eine Reihe von Erlassen zur Öffnung von Archiven gegeben, die sich mit der Deklassifizierung befassen. Deklassifizierung ist ein Begriff, der in der nationalen Geheimdienstgesetzgebung verwendet wird. Das bedeutet in der Regel, dass die Dokumente zwar deklassifiziert, aber nicht zugänglich sind. Nach einem harten Kampf ist es uns vor zwei Jahren endlich gelungen, Zugang zu einem wichtigen Teil des Archivs des Geheimdienstes zu erhalten. Es handelt sich um ein riesiges und umfangreiches Archiv.
Kann nach dem Urteil mit einer Aufklärung gerechnet werden?
In dem Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist nur von der Gewährung des Zugangs die Rede, nicht aber von einem allgemeinen Zugang ohne jegliche Einschränkungen. Das bedeutet, wir können jetzt vieles einsehen und lesen, aber wir dürfen nicht sagen, was da steht, denn das verbietet weiterhin das Geheimdienstgesetz. Wir können Schlussfolgerungen ziehen und diese weitergeben, aber wir dürfen Ross und Reiter nicht nennen.
Präsident Javier Milei hat gerade eine Gesetzesinitiative angekündigt, die es ermöglichen soll, mutmaßliche Straftäter in Abwesenheit zu verurteilen. Dies betrifft in erster Linie die Iraner, die des Anschlags beschuldigt werden.
Das ist alles nur Zirkus, mit dem das offizielle Narrativ untermauert werden soll. Wir fordern seit vielen Jahren eine Untersuchungskommission mit anerkannten Persönlichkeiten, etwa aus der Menschenrechtsbewegung, und Kongressabgeordneten. Die Kommission muss uneingeschränkten Zugang zu den Geheimarchiven haben. Sie soll herausfinden, was passiert ist, in welchem Kontext es passiert ist und welche Verantwortung der argentinische Staat trägt. Dann kann auch die Frage nach dem Motiv beantwortet werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen