: Martialisches und Privates
■ Die NS-Herrschaftsgeschichte – aufwendig und großflächig illustriert
München, 60 Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten: die Stadt, in der alles seinen Anfang nahm, „die Hauptstadt der Bewegung“ setzt sich mit ihrer braunen Vergangenheit auseinander. Ausstellungen, Installationen, Filme, Vorträge häufen sich in einer Weise, daß man befürchten muß, diese späte Spurensicherung könnte vielleicht zur letzten werden.
Die Stadt der Wirtsstuben und Bräukeller war der Geburtsort der NSDAP, die 1919/20 mit antidemokratischen, antikommunistischen, antisemitischen und ausländerfeindlichen Parolen binnen kürzester Zeit von einer kleinen völkisch-nationalistischen Gruppierung unter vielen zu einer mächtigen Partei mit 20.000 Mitgliedern im Jahre 1922 aufstieg. München, das war der Verlagsort der parteieigenen Zeitung ab 1919, die Kulisse des mißglückten Putschversuches und damit Initiationsort der „alten Kämpfer“, Stätte des Totenkultes mit Denkmalsetzung und alljährlichen Aufmärschen. Die „Hauptstadt der Bewegung“, so der „Ehrentitel“, der ab 1935 selbst jeden Stromzähler zierte, war Sitz der Reichsleitung der NSDAP, der obersten SA-Führung, des Reichsschatzmeisteramtes und der Reichszeugmeisterei, die Produktion und Vertrieb sämtlicher Uniformen und Abzeichen organisierte. Für die „Hauptstadt der Deutschen Kunst“ wurde 1933 der Grundstein für den ersten Monumentalbau der Nazis gelegt. Unmittelbar nach der Machtergreifung entstand vor den Toren der Stadt, in Dachau, das erste Konzentrationslager – Vorbild für alle weiteren.
Mit einer breit angelegten, aufwendig inszenierten Ausstellung versucht das Stadtmuseum München, die braune Geschichte der Stadt facettenreich aufzurollen. Auf nahezu zwei Kilometern gruppieren sich Plakate, Bekanntmachungen, Fahnen, Parteiausweise und Abzeichen, Fotografien, Lagerlisten, Totenscheine, Uniformen, Skizzen, Modelle, Einrichtungen und Bilder zu einem materiell und psychologisch anspruchsvollen Geschichtskaleidoskop.
Wer die Konzentration aufbringt, sich durchzulesen und dabei auch noch sein Reflexionsvermögen wach hält, wird viel Neues und erschreckend Aktuelles entdecken. Immer wieder stellt sich die Frage, warum Regierung und Justiz auf dem rechten Auge so blind waren, Verbote wieder aufhoben, Mörder und Putschisten milde verurteilten und begnadigten und so weiter. Lautes wechselt mit Leisem, Martialisches mit Privatem. Der Fahnenwald im schwarz-weiß-rot gestrichenen Saal, der das Spektrum der annähernd 300 in München um 1920 operierenden nationalistischen, monarchistischen und revolutionären Verbände und Trupps widerspiegelt, hat optisch eine wesentlich größere Präsenz als jener Ausstellungswinkel, der an die Pogromnacht, Enteignung, Ghettoisierung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Münchens erinnert.
Die Illustrierung der Herrschaftsgeschichte gerät entsprechend den Objekten plakativ großflächig – die Dokumentation der Leidensgeschichte in intimen Zeugnissen aber scheint an den Rand gedrängt. Eine Unachtsamkeit der Wegführung bedingt auch, daß man sich an den Orten des Grauens – Dachau und Auschwitz – vorbeimogeln kann. Richtungspfeile sollen dieses Mißverständnis nun beseitigen. Ira Diana Mazzoni
Die Ausstellung „München, Hauptstadt der Bewegung“ ist bis zum 27. 3. 1994 im Münchner Stadtmuseum zu sehen.
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