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„Marsch für das Leben“ in BerlinGegen die individuelle Freiheit

Mitte September ziehen wieder selbsternannte LebensschützerInnen durch Berlin. Sie demonstrieren für ein generelles Abtreibungsverbot.

Die Lebensschützer*innen, darunter auch einige Holzkreuzträger_innen, demonstrieren gegen „Genderwahn“, 2014. Foto: dpa

Berlin taz | 5.000 DemonstrantInnen sollen es in diesem Jahr werden. So viele sind zumindest laut Polizei angemeldet. Still und anklagend wollen die Männer und Frauen am 19. September durch Berlin ziehen, vom Bundeskanzleramt durch die Innenstadt. Sie werden weiße Holzkreuze tragen und Transparente, auf denen Sätze stehen wie: „Abtreibung ist Mord“.

Dann ist es also wieder so weit: Der Bundesverband Lebensrecht ruft zum „Marsch für das Leben“ auf. Der Verein will ein generelles Verbot von Abtreibungen erreichen. Seit der Marsch zum ersten Mal vor sieben Jahren mit 500 bis 1.000 DemonstrantInnen öffentlichkeitswirksam wurde, steigt die Beteiligung stetig.

Seit einigen Jahren verstärkt sich aber auch der Gegenprotest. „Die sogenannten LebensschützerInnen wurden lange Zeit nicht als Problem ernst genommen“, sagt Silke Stöckle, Sprecherin vom Bündnis Sexuelle Selbstbestimmung. Unter dessen Dach veranstalten zivilgesellschaftliche und parteipolitische Organisationen seit 2012 Gegenkundgebungen. Motto: „Leben und Lieben ohne Bevormundung“. „Als der Protest der selbst ernannten LebensschützerInnen breiter wurde, erkannten viele GegnerInnen die Bedrohung, die davon ausgeht“, sagt Stöckle: „Vorher dachte man, das ist ein kleiner Haufen fundamentalistischer Spinner.“

Diese Einschätzung teilen die AutorInnen Eike Sanders, Ulli Jentsch und Felix Hansen vom Berliner antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum. Die drei haben zum organisierten „Lebensschutz“ geforscht und herausgefunden, dass es sich bei der Bewegung um eine gut in der Politik vernetzte, politische und religiöse Bewegung handelt.

Antifeministisch und antiliberal

Der symbolisch aufgeladene Kampf gegen Abtreibung erfülle heute eine Vehikelfunktion „für eine umfassende Kulturkritik“ an der offenen, säkular-aufgeklärten und demokratisch-pluralistischen Gesellschaft. Im Kern sei die Bewegung antifeministisch und antiliberal. Sie richte sich gegen individuelle Freiheiten der modernen Gesellschaft und gegen das Recht auf eine selbstbestimmte Lebensweise.

Die „LebensschützerInnen“ haben ihre Lobbyarbeit professionalisiert und moralisch umkämpfte Themen wie Sterbehilfe, Stammzellforschung, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik in den Mittelpunkt ihrer Kampagnen gestellt. So werde die Bewegung im gesellschaftlichen Mainstream anschlussfähig.

Unter den HolzkreuzträgerInnen findet sich seit einigen Jahren jenes Milieu der bürgerlichen Mitte, das sich als „besorgte BürgerInnen“ begreift. Dessen angstbesetzte wie ressentimentgeladene gesellschaftspolitische Wunschagenda – normierte Zweigeschlechtlichkeit mit klaren Rollenbildern statt „Genderwahn“, patriarchal-heterosexuelle „Kernfamilie“ statt „Homoehe“ und Selbstbestimmung und Pluralität von Lebensentwürfen – findet häufig auf Plakaten des Marsches Ausdruck.

„Die Ansichten der Leute, denen wir beim ‚Marsch‘ gegenüberstehen, sind fast identisch mit denen besorgter Eltern, mit denen wir bei den Protesten gegen den Bildungsplan für umfassende sexuelle Aufklärung konfrontiert sind“, sagt der Sexualpädagoge Ringo Stephan. Die Initiative Vielfalt statt Einfalt, für die Stephan arbeitet, ruft mit zum Gegenprotest auf. Die „LebensschützerInnen“ seien eine „rückwärtsgewandte, konservative Welle, die gerade die ganze Gesellschaft durchzieht“, so der Experte.

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24 Kommentare

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  • Der Begriff "Lebensschutz" kommt ursprünglich aus dem Kontext:

    Weltbund zum Schutz des Lebens und der Losung:

    Heimatschutz, Umweltschutz, Lebensschutz.

    Die hatten Ende der 70er einige Ökos in ihre rechtsradikalen Fäden verwickelt.

     

    Gegen Abtreibung meinte auch "Für Erhalt des deutschen Volkes".

    Oder gibt es noch andere Quellen für den Begriff?

  • @Läufer: Ich denke an das Wohl von beiden. Aber es gibt doch mehrere Fälle: 1. Die Frau wurde durch einvernehmlichen Sex schwanger und das Leben der Mutter ist nicht gefährdet. Dann gibt es überhaupt keinen Grund, "mein Bauch gehört mir" zu rufen; schließlich hätte man vor dem Sex nachdenken können. In dem Moment, in dem man freiwillig Sex hat, weiß frau über die Konsequenzen Bescheid. Aus meiner Sicht gebietet es die Mitmenschlichkeit, das Kind nicht zu töten. Linke fordern sonst auch in allen Bereichen Mitmenschlichkeit, also warum nicht auch hier? 2. Die Frau wurde vergewaltigt, aber ihr Leben ist nicht gefährdet. Ok, aber für die Vergewaltigung kann das Kind nichts; warum sollte man es töten? Der Rest wie bei 2. 3. Das Leben der Mutter ist gefährdet. In dem Fall ist eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Aber ich glaube nicht, dass alle Teilnehmer des Marsches für das Leben fordern, auch hier Abtreibung zu verbieten.

  • Wie ist das jetzt mit der sexuellen Selbstbestimmung und individuellen Freiheit? Zählt Prostitution auch dazu? Oder ist die rückwärtsgewandt?

  • "Mein Bauch gehört mir."

     

    Dieser Bauch hat aber das Potenzial, Leben zu beherbergen, das nicht der Bauchbesitzerin, sondern sich selbst gehört. Die biologische Realität ist so offensichtlich, daß man sie nur mit forcierter Dogmatik verdrängen kann.

  • Sprechen Sie mal mit Frauen, die abgetrieben haben. Ich kenne keine, die es nicht bereut hat.

    • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

      Ich kenne welche die durchaus erleichtert sind, zu schwierigen Zeiten ihres Lebens nicht dazu gezwungen worden zu sein Mutter zu werden.

  • Wenn nicht mal Erwachsene imstande sind, ihrer Selbstbestimmung auch ein adäquates Quantum Eigenverantwortung gegenüberzustellen, wie soll man es von den Kindern und Jugendlichen erwarten?

     

    Stellt in Zeiten, da wir über Sexualität und Fortpflanzung umfassend aufgeklärt und Verhütungsmittel an jeder Hausecke verfügbar sind, immer noch eine solche Herausforderung dar, seiner Verantwortung gerecht zu werden und entsprechendes Wissen in die Tat umzusetzen?

    • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

      Ihnen ist bewusst, dass Verhütungsmittel versagen können? Selbst die Pille ist nicht unfehlbar. Abgesehen davon gibt es auch immer noch Vergewaltigung oder Abtreibung auf Grund von gesundheitlichen Komplikationen.

  • "Individuelle Freiheit" und "sexuelle Selbstbestimmung" sind Gummiargumente, die jeglicher seriösen Grundlage entbehren. Mit solchen Phrasen kann man sowohl pro als auch contra viele Dinge argumentieren. Stehen einem Fötus keine individuelle Freiheit und keine Selbstbestimmung zu, nur weil er noch nicht in der Lage ist, sich als Individuum zu diesen Fragen zu äußern?

    • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

      Puh, da hat wohl jemand in Biologie geschlafen. Föten werden - außer bei medizinischer Indikation - nicht abgetrieben, oder zumindest keine weit entwickelten. Die Fetalperiode beginnt etwa in der 11. Schwangerschaftswoche, bis zu 12 Wochen nach Empfängnis darf legal abgetrieben werden.

  • Na, dann wollen wir den "Lebensschützern" mal den Gefallen tun und allen ankommenden Flüchtlingen ins Gewissen reden, dass sie fruchtbar sein sollen und bloß nicht verhüten, geschweige denn abtreiben.

    Das muss ja ganz in deren Sinne sein.

     

    Die Zahl autochthoner Bewohnerinnen dieses Landes, die abtreiben, geht ja glücklicherweise drastisch zurück, weil es nicht mehr so viele im gebärfähigen Alter gibt.

    (Bzw. werden die Deutschen ja eh alle schwul und lesbisch wegen der baden-württembergischen Bildungspläne.)

    • @Age Krüger:

      Fassen wir mal die hier genannten Fakten zusammen:

       

      > Die Lebensschützer sind ein Problem

      > Die Lebensschützer sind eine Bedrohung

      > Die Lebensschützer sind eine gut vernetzte, politische und religiöse Bewegung

      > Die Lebensschützer sind rückwärtsgewandt

      >uswusf

       

      Hm... schrieb ich von Fakten? Ich lese hier nur Meinungen selbsternannter Freiheitsschützer.

  • Hier kommt wieder schön der Trick der Rechten und Konservativen zum Vorschein, der nur zeigt, wie antifreiheitlich die eigentlich sind.

     

    In sozialer Hinsicht sollen (geschriebene wie ungeschriebene) Gesetze herrschen, um die Menschen zu kontrollieren. Dabei wird dann das Soziale gerne hochgehalten und die Freiheit gilt da eher als Egoismus.

     

    In der Wirtschaft kann es hingegen nicht freiheitlich genug sein. Das hat zur Konsequenz, dass vor allem Menschen mit Geld und Besitz (große Firmen, reiche Familen etc.) die Macht haben. Das Soziale ist hier egal und Freiheitliche wichtig.

     

    Ergo: irrational und doppelt anti-freiheitlich.

  • Es ist unfassbar, wie positiv der Autor Abtreibung darstellt. Es ist und bleibt Fakt, dass ein unschuldiges kleines Lebewesen daduch vernichtet wird. Jeder, der das öffentlich unterstützt, ist ein geistiger Brandstifter.

    • @Hans Müller:

      Och süß, es gibt sie also doch noch, die Kommentar-Trolle :-)

    • @Hans Müller:

      Merkwürdig, Herr Müller, ich kann den Artikel lesen so oft ich will, aber ich kann nicht erkennen dass sich der Autor mit dem Thema 'Abtreibung' überhaupt befasst.

      Vielmehr beschäftigt er sich mit Leuten Ihrer Art. Und sooo "unschuldig" und "klein" erscheinen Sie mir im Moment gar nicht.

      Wie kommt das denn?

      • @LittleRedRooster:

        Sorry! Das müsste natürlich 'Autorin' statt Autor heißen.Tut mir leid!

    • @Hans Müller:

      Das Leben der Mutter wider Willen zählt für Sie nicht?

      • @Läufer:

        So weit ich weiß, ist gebären im allegemeinen nicht tödlich.

  • Rückständigkeit als neues Ziel - ist ja nicht ganz unbekannt und leider oft erfolgreich, zumindest temporär. Hier was zum Nachdenken für alle Jungen, aus authentischer Quelle:

     

    Daß Frauen selbst bestimmen dürfen, ob sie ein Kind zur Welt bringen, musste in den 1970er Jahren erkämpft werden. Vorher galt Abtreibung als Straftat. Die Frau war faktisch eine Gebärmaschine ohne Selbstbestimmungsrecht.

     

    Damals war eine Frau mit einem "ledigen" Kind gebrandmarkt, aus der ehrbaren Gesellschaft ausgestoßen; ihr geplantes Leben war faktisch vorbei.

     

    Es gab allerdings gesellschaftliche Restriktionen, um das zu verhindern. "Anständige" Mädchen hatten keinen Sex vor der Ehe, überhaupt war Sex ein Tabu. Es war bis in die Sechziger Jahre hinein sogar strafbar, unverheirateten Paaren ein gemeinsames Zimmer zu vermieten.

    Nur unverheiratete junge Männer durften sich unter der Hand "die Hörner abstoßen". Allgemein angenommene Partnerinnen: "Leichte Mädchen" oder Prostituierte.

    Natürlich wurden diese Regeln von jungen Menschen auch mal missachtet. Wenn es dabei zu einer Schwangerschaft kam, musste aber sofort geheiratet werden.

     

    In Not geratene Mädchen und Frauen wandten sich oft an dubiose "Engelmacher", die illegale Abtreibungen durchführten. Ein sehr riskantes Unterfangen. Nicht wenige sind dabei ums Leben gekommen.

    Später in den Siebzigern mussten ungewollt Schwangere in die Niederlande fahren, wo Abtreibung damals schon legal war. Aber sie durften das niemandem erzählen, nicht mal ihrem Arzt, sonst hätte dieser sie anzeigen müssen.

     

    Man mag sich heute gar nicht mehr ausdenken, wie beschränkt das Leben in sexueller Hinsicht war. Erfahrung, Genuß, Selbstbestimmung war alles verboten. Über den Frauen, die sich dagegen verhielten oder die sich dazu überreden ließen, schwebte das Damoklesschwert - entweder sozial abzurutschen oder als Mörderin im Gefängnis zu landen.

    Fragt sich, wer das wieder haben will...

    • @Läufer:

      Abtreibung gilt dank der CDU immer noch als straffreier Rechtsbruch. Weshalb ich als Frau auch niemals mit einem CDU-Wähler Sex haben werde, 100% sicher ist nunmal keine Verhütungsmethode, d.h. in den Augen dieser Menschen bin ich bei Abtreibung dann ein Verbrecher - no thanks. Die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch werden übrigens nur bei niedrigem Einkommen übernommen, eine durschnittlich verdienende Frau trägt also auch privat das finanzielle Risiko. Da gibt es m.E. durchaus noch Verbesserungsbedarf.

    • @Läufer:

      "Daß Frauen selbst bestimmen dürfen, ob sie ein Kind zur Welt bringen, musste in den 1970er Jahren erkämpft werden. Vorher galt Abtreibung als Straftat. Die Frau war faktisch eine Gebärmaschine ohne Selbstbestimmungsrecht."

       

      Die Frau - übrigens auch der Mann - hatten schon damals Selbstbestimmungsrecht genug, um einer Empfängnis mit den damals bekannten, teils modernen, teils uralten Methoden vorzubeugen.

       

      Vieles, was in den 70ern erkämpft wurde, ist gut, aber eben nicht alles.

    • @Läufer:

      Wenn man sich das Foto von der Demo oben anschaut, scheint es da schon eine Häufung bei Menschen eines gewissen Alters zu geben.

      Das ist insgesamt gerade ein Muster in Deutschland: Menschen mit dem Kopf im Vorgestern, wollen die Regeln für Morgen setzen.