Marius Müller-Westernhagen wird 70: Wir haben ihm kein Denkmal gebaut

Westernhagen ist einer der erfolgreichsten deutschen Musiker. Warum wird er eigentlich nicht schon längst so geliebt wie Lindenberg oder Grönemeyer?

Westernhagen singt in ein Mikro

Soll man klatschen oder kotzen? Westernhagen ist eine ambivalente Figur Foto: dpa

Als am 26. April 2013 im Berliner Friedrichstadtpalast alle Deutschen Filmpreise verliehen waren und der Film „Oh Boy“ den Hauptpreis gewonnen hatte, da kam Marius Müller-Westernhagen auf die Bühne. Es war eine Premiere, er wollte den Song „Clown“ aus seinem neuen Album „Alphatier“ präsentieren, und als er gerade loslegte, da ließ das ZDF den Abspann über das Bild laufen und klinkte sich aus. Die FernsehzuschauerInnen sahen und hörten so gut wie nichts von Westernhagens neuem Lied. Oh Boy.

So weit war es gekommen. „Pfefferminz“, „Johnny Walker“, „Sexy“, „Freiheit“, „Wieder hier“ – um es mit Westernhagens Worten zu sagen: Alles in den Wind.

Das ZDF entschuldigte sich zwar später, stellte ­Westernhagens Auftritt nachträglich online. Aber was soll’s? Niemand der Macherinnen und Macher beim Fernsehen schien Westernhagens Erscheinung auf der Bühne für mehr wert zu sein als die Untermalung des Abspanns.

Wie konnte es so weit kommen? Warum ist Marius Müller-Westernhagen, der an diesem Donnerstag 70 Jahre alt wird und einer der kommerziell erfolgreichsten deutschen Musiker ist, nie der Kultstatus eines Udo Lindenberg zuteil geworden? Warum lieben wir Menschen in Deutschland unseren Marius nicht mehr so, wie wir ihn einst geliebt haben?

Einer von uns, der Marius eben

Vielleicht weil er nie unser Marius war. Weil er nie der war, für den wir ihn hielten. Er war nie der Malocherjunge, den viele in ihm sahen. Und der er selbst gern vorgab zu sein. Westernhagens Vater war Ensemblemitglied am Düsseldorfer Schauspielhaus unter Gustaf Gründgens. Marius wuchs in Hochkulturkreisen auf. Und sein Vater trank zu viel. Viel zu viel. Das sollte Marius Müller-Westernhagens Verhältnis prägen – zur Mutter und zum Alkohol. Westernhagen sang „Johnny Walker“ und Zehntausende, gut alkoholisierte Stadionbesucher grölten mit. Dabei hatte Westernhagen es nie so gemeint. Aber abwürgen wollte er die Ekstase dann doch nicht.

Er spielte halt. So, wie er immer spielte. Schon damals, bevor seine Musikkarriere so richtig losgegangen war und Westernhagen, noch keine 20 Jahre alt, als Sänger Bill seiner (real existierenden) Band Harakiri Whoom sich in einer Politkomödie vor der Einberufung durch die Bundeswehr drückte – und der WDR den Film nicht ausstrahlte.

Es ist kaum mehr vorstellbar, aber Westernhagen war ein Provo-kateur – einer, der auf der Seite der Verlierer stand

Oder als er Anfang der 1970er für die ZDF-Satiresendung „Express“ Paul McCartneys „Give Ireland back to the Irish“ in „Gebt Bayern zurück an die Bayern“ umdichtete – und die Plattenfirma nach Protesten den Verkauf stoppte. Wehrkraftzersetzung! Spaltung! MMW war damals einfach noch zu viel für die BRD.

In den Anfangsjahren als Solo­musiker spielte Westernhagen dann die Rolle des Kämpfers für den kleinen Mann, wie im Song „Der Typ auf Zelle Nr. 10“: „Er war wie du heut Morgen noch ein unbescholtener Mann, er liebte Fußball, spielte Skat dann und wann. Sozialbauwohnung, Busnetzkarte, ’ne unzufriedene Frau.“ Oder er spielte gleich die Rolle des kleinen Mannes, wie im Film „Theo gegen den Rest der Welt“ den glücklosen, aber doch immer wieder aufstehenden Truckerfahrer: ehrlich, Herz am rechten Fleck, einer von unten, einer von uns, der Marius eben. Johnny Walker! Prost!

Dann wurde die Marke kreiert

Westernhagen teilte Anfang der 1980er immer mehr aus: gegen Journalisten („Ich goss ihm noch nach, gab ihm noch einen Kuss und er sagte: ‚Deine Platte ist gut‘“); gegen diese Liedermacher, die aus dem Osten rübermachten und vom westdeutschen Publikum wie Erlöser empfangen wurden („Ich krieg auch ’n Preis von der Akademie, fast wie bei uns, doch da bekam ich den nie“); gegen die Öko-Bewegung („Blödes Gelaber um saubere Luft, und du stehst acht Stunden am Hochofen rum“).

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, aber Westernhagen war ein Provokateur. Einer, der auf der Seite der Verlierer stand. Das Image des Armani-Rockers war damals noch ganz weit weg. Es war noch unsichtbar. Es war unvorstellbar. Westernhagen war ein Stachel im Fleisch der linksintellektuellen Selbstvergewisserung. Doch damit brach Westernhagen, so wie er immer wieder mit seinen Vorgängeridentitäten brach.

Er wurde massenkompatibel, eine Marke wurde kreiert. Ab 1987 hieß es auf dem Albumcover nur noch „Westernhagen“, nicht mehr „Marius Müller“ und so weiter. Auch das erste Album, nach dieser Zäsur, hieß dann so: „Westernhagen.“ Darauf ein damals nicht sonderlich beachteter Song, der später zur Hymne der Wiedervereinigung werden sollte. Sie wissen schon.

Seine erfolgreichste Zeit sollte nun kommen – und mit ihr das ganz große Publikum, aber auch die ganz große Entfremdung. Seine Alben, „Halleluja“, „Live“, „Jaja“, „Affentheater“, „Radio Maria“, schlugen ein. Seine Hallen-Tourneen waren ausverkauft. Die „Affentour“ 1995 spielte er dann konsequenterweise nur noch in Stadien. Nicht in den kleinen, sondern in den großen, er gab Zusatzkonzerte und ließ sich vom Dokumentarfilmer D. A. Penne­baker, der die legendäre Bob-Dylan-Doku „Dont Look Back“ gedreht hatte, begleiten. In diesen Sphären war Westernhagen jetzt. Der daraus entstandene Kinofilm „Keine Zeit“ floppte zwar, doch zeigt er, wie sehr Westernhagen zum Zeremonienmeister des jungen, neu zusammengewachsenen Deutschland geworden war. Die einen gingen zur Loveparade, die anderen zu Westernhagen. Er erreichte auf einer Tour ein Millionenpublikum. Und während das noch im Stadion weitere Zugaben forderte, saß er schon mit seiner damaligen Frau Romney im Auto auf dem Weg zum Hotel. Aufgepumpt. Voller Adrenalin.

Ein Mann voller Widersprüchlichkeiten

Und Westernhagen drehte weiter an der Schraube, setzte für die Tour nach dem „Radio Maria“-Album noch einen oder zwei oder drei drauf: noch größere Bühne, noch größere Leinwände, noch mehr Watt in den Boxen, alles bombastischer, 75.000 Zuschauer im Juni 1999 im Berliner Olympiastadion, alles noch … noch … noch.

Und auf diesem Gipfel nahm Westernhagen Abschied. Und das verstand niemand. Westernhagen hört auf? Keine Auftritte mehr? Hä? Er musste klarstellen, dass es nur um die Stadien geht, dass er die nicht mehr bespielen will, dass er sich selbst unheimlich geworden war.

Aber: Warum hast du das dann gemacht, Marius – oder … äh … pardon – Westernhagen?

Keiner findet es heute cool, mal Westernhagen-Fan gewesen zu sein. Oder – noch schlimmer – es immer noch zu sein

Diese Widersprüchlichkeit war es immer, die Westernhagen so schwer greifbar machte: Mag ja sein, dass du mit 18 noch in Düsseldorf rumranntest und nach jedem Gig beim Hühner-Hugo dein Geld verfraßt, aber heute sitzt du mit dem Kanzler Gerhard Schröder an einem Tisch.

Wann wird er rehabilitiert?

Anfang der 2000er war Westernhagen das, was die Amis einen Has-Been nennen, ein Gewesener. Er war plötzlich keiner mehr von uns. Wer auch immer wir eigentlich sind. Und jetzt war er auch keiner mehr für die Massen. Nach sechs Alben in Folge, die jeweils mehr als eine Million Mal verkauft worden waren, kam 2002 „In den Wahnsinn“, 2005 „Nahaufnahme“. Sie interessierten – in Westernhagens Maßstäben – kaum noch jemanden. Die 90er waren vorbei und mit ihr die Loveparade und Westernhagen.

Doch das, dieses Ende des Westernhagen-Hypes, ist jetzt auch schon 18 Jahre her. Wann wird er rehabilitiert? Wann wird der Mann, der so viele Millionenseller in Deutschland hatte wie kein anderer Künstler, in den Kreis der Helden aufgenommen? Dieser kleine Kreis, der Musik gemacht hat, die anspruchsvoll genug ist, um vom Popkritiker zumindest akzeptiert und von der Masse geliebt zu werden. Dieser kleine Kreis, deren Mitglieder mal kantig genug waren, um heute noch stolz drauf sein zu können, dass man den oder die mal cool fand.

Keiner findet es heute cool, mal Westernhagen-Fan gewesen zu sein. Oder – noch schlimmer – es immer noch zu sein. Die Ü40-Partys finden ihr verbindendes Element dann doch eher bei Gröne­meyer. Bei dem kann man sich an etwas festhalten. Wie er für die Malocher sang, den Pott hochleben ließ, die Trauer über den Tod seiner Frau verarbeitete, wie er sich für die Rettung Geflüchteter auf dem Mittelmeer einsetzt, das wirkt authentisch.

Bei Westernhagen kann man sich an nichts festhalten. Damals nicht, als er einfach so mit der Schauspielerei oder dem Kumpeldasein oder den Stadiontourneen aufhörte. Und heute auch nicht, wenn er nach der Verleihung des Echo an Kollegah und Farid Bang schreibt: „Eine Industrie, die ohne moralische und ethische Bedenken Menschen mit rassistischen, sexistischen und gewaltverherrlichenden Positionen nicht nur toleriert, sondern unter Vertrag nimmt und auch noch auszeichnet, ist skrupellos und korrupt.“ Dann will man ihm eigentlich applaudieren. Er hat recht! Er ist doch einer von uns! Danke, Marius!

Nichtwissen, ob man klatschen oder kotzen soll

Und wenn er dann seinen Text damit abschließt, dass er die Echos zurückgeben wolle, denn: „Das schafft Platz bei mir zu Hause und in meinem Herzen.“ Dann möchte man sich übergeben.

Dieses Nichtwissen, ob man klatschen oder kotzen soll, macht Marius Müller-Westernhagen so schwer zugänglich. Was soll ich mit diesem Mann anfangen? Wo soll ich ihn verorten? Mag ich den? Hören Sie sich das Album „Das erste Mal“ von 1975 an. Es war nicht alles schlecht damals. Und dann hören Sie sich „Williamsburg“ von 2009 an. Es ist auch nicht alles schlecht heute.

Und dann: Kommen Sie mit dieser Ambivalenz klar.

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