Marionetten erklären die Welt: Große Bühne für kleine Puppen
In Tschechien ist das Puppentheater immaterielles Unesco-Welterbe und bis heute beliebt. Zu Gast in Pilsen und Prag, wo die Puppen tanzen.
Inhaltsverzeichnis
Zu Recht, finden die Kids im vollbesetzten Zirkuszelt. Die Stimme der Puppenspielerin Zuzana Bruknerová klingt weinerlich, der Kopf der Puppe hängt mitleiderregend zwischen den Schultern. Radek Beran lenkt die Figur des Katers zum armen Tropf. „Ich verspreche dir Glück, schenkst du mir ein paar Stiefel“, raunt er. Kaum hat das Tier die Stiefel an, verschafft es dem Geprellten schöne Kleider, Gold und am Ende die Prinzessin. Die jungen Zuschauer jubeln.
Die gelenkigen Holzdarsteller faszinieren. Die Rollen von Gut und Böse sind klar verteilt. „Ungerechtigkeit fordert Vergeltung, im Märchen wie im richtigen Leben“, sagt Zuzana. Schon die Kleinen applaudieren, wenn das Gute über das Böse siegt. „Das ist die Weisheit des Unterbewusstseins“, erklärt die gebürtige Slowakin, die seit mehr als dreißig Jahren die Fäden der kleinen Sympathieträger in den Händen hält. Es gehe um tiefe Emotionen, die jeder von Kind an hat – Freude, Angst, Sehnsucht nach Liebe, der Wunsch nach Gerechtigkeit, Schadenfreude oder Rache. „Die Puppen lassen Kinder träumen und fühlen“, sagt die Theaterfrau. Auch die Erwachsenen.
Zuzana Bruknerová und Radek Beran gehören zur bekannten Prager Spielgruppe „Buchty a Loutky“ („Buchteln und Puppen“), die seit 1991 existiert. Wie man die zierlichen Charaktere an den Fäden führt, die Beine krachend auf die selbstgebaute Bühne fallen lässt und die Arme zu einer Pose der Entrüstung hochreißt, haben sie an der Theaterfakultät der Akademie für Musische Künste in Prag studiert. Das Marionettenspiel ist ein eigener Fachbereich.
Bühnen Prag
Marionetten-Gruppe „Buchty a Loutly“, 16900 Prag, www.buchtyaloutky.cz; Letní Letná, Zirkus- und Marionetten-Festival auf dem Letna-Hügel, Prag, www.letniletna.cz , auch in Englisch.; Nationales Marionetten-Theater, Zadecká 1, 11000 Prag, www.mozart.cz. Vorstellungen „Don Giovanni“ oder „Zauberflöte“ in Englisch; Theater Spejbl und Hurvínek, Dejvicá 38, 16000 Prag, www.spejbl-hurvinek.cz ; Truhlár Marionety, handgefertigte Marionetten, U Lužického semináře 5, 11800 Prag, www.marionety.com
Pilsen
Marionetten: Marionetten Museum, Nám. Pepubliky 23, 30100 Pilsen, www.muzeumloutek.cz; Alfa-Marionetten-Theater, Rokycanská 7, 31200 Pilsen, www.divadloalfa.cz
Auskunft
Tschechische Zentrale für Tourismus, Wilhelmstraße 44, 10117 Berlin, Tel. 030-204 4770, www.czechtourism.com
Zur Einstimmung
Theodor Storm: „Pole Poppenspäler“. Eine Novelle über die Liebe zum Puppenspiel.
In Tschechien sind die leichtfüßigen Holzfiguren bei Jung und Alt beliebt und die Vorstellungen meist ausverkauft, wie beim Internationalen Zirkusfestival Letní Letná in Prag. Die Ansicht, dass Marionetten altmodisch seien, ist kaum verbreitet. Bis heute ist das Puppentheater im staatlichen Bildungsauftrag verankert. Vor zwei Jahren sind sie immaterielles Unesco-Welterbe geworden. Das hat sie noch populärer gemacht.
Auch in Pilsen südwestlich von Prag haben die Gliederpuppen eine lange Tradition. „Marionetten sind eine Lebensart“, sagt Jakub Hora, der Direktor des alteingesessenen Marionettentheaters „Alfa“. Computerspiele könnten das nicht ersetzen und seien auch keine Konkurrenz: „Vor dem kalten Elektronikgerät sitzt du allein, im Theater aber mit Menschen zusammen.“
Der Bühnenchef steht auf humane Interaktion – „Human Fantasy Theatre“, weil die Fantasie mobilisiert werden muss. Auf zeitgemäße Stücke legt er Wert. Kasperle und Teufel, König und Königin dürfen aber nicht fehlen. Außerdem gibt es „In“-Typen wie Comicfiguren, Dinosaurier oder Superagenten wie „James Blond“.
Im Proberaum trainiert Josef Jelínek mit einer expressiv gestalteten Königsfigur. Zum Ensemble gehört er seit drei Jahren. Sein Herz brennt für Puppen. Seit dem zwölften Lebensjahr lässt er die Wackelkandidaten tanzen. „Wir können etwas, das normale Schauspieler nicht können“, sagt der 31-Jährige, der aus einer alten Theaterfamilie stammt.
Marionetten sind die besseren Schauspieler
„Wir können mehrmals sterben oder Dinge tun, die gegen die Physik sprechen, wie fliegen, plötzlich verschwinden und an einem anderen Ort unerwartet wieder auftauchen.“ Marionetten seien einfach die besseren Schauspieler, findet Jelínek.
Wie zauberhaft und vielgestaltig sie sein können, zeigt das Marionetten-Museum in Pilsen. Unter seinem Dach ist das kulturelle Puppenerbe Tschechiens versammelt: drei Stockwerke voller wertvoller Spielgesellen aus verschiedenen Epochen – wertvolle Marionetten, mit und ohne Schnüre, Mannequins und Stockpuppen, expressiv gestaltete Köpfe aus Holz, Pappmaché oder Gummi. Mit den ältesten aus dem 18. Jahrhundert tourten fahrende Komödianten und Zirkusse durch die Lande. Betuchtere Familien besaßen eigene Spieltheater.
Zuzana Bruknerová, Puppenspielerin
Laientheater, Amateurbühnen mit Kaberettprogramm waren enorm beliebt. Die Akteure trafen mit ihrem Spiel den Nerv der Zeit. „Die Puppen erschienen nicht nur als Spaßmacher, sondern auch als Mahner“, sagt Museumsdirektorin Markéta Formanová. In Böhmen, das bis 1918 zur Habsburger Monarchie gehörte, brachten die Theater angesichts des erwachenden Nationalismus viele kritische Stücke auf die Bühne wie etwa „Der brave Soldat Schwejk“ von Jaroslav Hašek: ein antimilitaristisches Schelmenstück, das die österreichischen Unterdrücker veräppelte. Puppen gegen Österreich – humorvoll und auf Tschechisch gespielt. Das hatte Erfolg.
Im 20. Jahrhundert boomten die Theater, weil sie staatlich gefördert wurden, um die Jugend ideologisch zu beeinflussen. Doch das Gegenteil passierte. Gerade in diesen Theatern blühte der Antikommunismus. „Das Puppenspiel war oft eine verdeckte Form des Widerstandes“, sagt Formanová. Das sei ein Grund, weshalb es bis heute so aktuell ist.
Die Nonkonformisten
In der Ausstellung kommt man auch dem Pilsener Josef Skupa (1892–1957) nahe, der vor gut hundert Jahren den Revolutionskasperle und die Figuren Spejbl und Hurvínek erfunden hat. Dank Skupa und dem Puppentrickfilm-Regisseur Jiří Trnka wuchsen Generationen von Kindern und Eltern in Osteuropa mit Marionetten auf, auch in Deutschland.
Im Pilsener Stadtgarten ist Spejbl und Hurvínek zu Ehren eine Skulptur aufgestellt. Der stets lässig gekleidete Vater und der immer freche Sohn gehören zu den beliebtesten Marionetten des Landes. Der charismatische Puppenspieler Skupa lieh den beiden abwechselnd seine Stimme: Spejbl bekam einen tiefen Bass, Hurvínek eine jungenhafte Stimmbruchstimme.
Das Puppen-Duo ist live auf der Bühne des Spejbl-und-Hurvínek-Theaters in Prag zu erleben. In knielanger Hose mit Hosenträgern, mit übergroßen Augen, einer schmächtigen Haartolle auf der Stirn und den Füßen in derben Holzschuhen trippelt Hurvínek aufgeregt über die Bühne. Der Junge und Vater Spejbl im schwarzen Schlabberanzug unterhalten die Zuschauer seit fast fünfzehn Jahren im Stadtteil Dejvice. Hurvínek – naseweis, offenherzig und ständig in Opposition gegen den Vater und die Welt.
Der Alte – vorsichtig, bloß nicht anecken. Der Kleine würde den Marionetten am liebsten die Fäden abschneiden, um sie frei und unabhängig zu machen.„Das ungleiche Paar ist die Idealbesetzung im Generationenstreit“, sagt Martin Klásek, Leiter der Profi-Bühne. Ein Dialog, der Kinder und Eltern interessiert. Grotesken werden gespielt, mal Krimis, mal Märchen. Für Erwachsene fallen die Stücke philosophischer, politischer aus. Schon Kláseks Vorgänger spielten sich mit zweideutigen Witzen in die Herzen der Zuschauer, wenn das Vater-Sohn-Duo erst gegen das Nazi-Regime opponierte, nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die Kommunisten. Puppen konnten nonkonform sein.
Markéta Formanová, Museumsdirektorin
„Das Schöne ist“, sagt Klásek, „dass ihre Frechheiten nicht so hart, nicht so gefährlich klingen wie die von menschlichen Wesen.“ Wenn die eigentlich Sprachlosen etwas sagen, wirke es niedlicher, sympathischer, da könne man lachen – und eher mal nachdenken, anstatt abzuwiegeln. Es reden ja scheinbar unschuldige Gliederwesen, die ohnehin von Schnüren gebändigt sind.
So kabbeln sich Spejbl und Hurvínek bis heute mit Witz, Feingefühl und Herz über Alltagsprobleme, klären Sinn und Hintersinn von Märchen wie Rotkäppchen, fragen sich, was eigentlich Liebe sei und warum das Publikum überhaupt Marionetten brauche
Jede Puppe ein Unikat
„Uns gehen die Themen nicht aus“, sagt der Prinzipal, der selbst gut Deutsch spricht. Nach über dreißig Jahren Bühnenarbeit steht für ihn fest, dass man auch als Erwachsener Kind bleiben muss. „Jedenfalls im Innern.“ Das bringe die Menschen zum Kern des Lebens zurück: „Sie kommen zu uns, weil sie das Kindliche in der modernen Welt vermissen.“
Auch bei Pavel Truhlár läuft alles wie am Schnürchen. Nur noch den einen Faden am Fadenkreuz zurechtzupfen und abschneiden. Dann hängt er richtig. Puppenmacher Pavel Truhlár malt dem selbst geschnitzten Hampelmann eine rote Nase. Fertig. Mehr braucht diese Marionette nicht. Sie spricht durch ihren schlichten Holzkörper. Auf dem Ateliertisch lässt der 50-Jährige sie ihre ersten Gehversuche machen. Die Gliederpuppe steht aufrecht auf der Holzplatte, ihr Kopf neigt sich zaghaft, sie verbeugt sich, tut ein paar Schritte nach vorn, wendet sich dem Betrachter zu, kniet lächelnd vor ihm nieder. Das geht ans Herz.
Truhlár lächelt, und es scheint, als ob ihn sein neuer hölzerner Freund gerade selbst verzaubert hat. Hinter den schönen Prinzessinnen, den tapferen Rittern, den neckischen Kasperles und all den anderen, die an den Wänden seines Studios aufgereiht sind, die Truhlár zum Leben erweckt hat, stehen durchlebte Schöpfungsprozesse. „Das ist von Anfang bis Ende aufregend“, sagt der Mann, der Marionetten seit einem halben Leben fertigt. Jede Puppe ein Unikat.
In Truhlárs Laden kann man die bunte Welt der stumm von der Decke baumelnden Geschöpfe bestaunen. „Manche Leute fangen dann an zu flüstern“, erzählt der Puppenmeister. Weil sie sich von allen Seiten beobachtet fühlen. „Es gibt eben Dinge, die einen starken Zauber ausüben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?