piwik no script img
taz logo

Marathon für Warmduscher

21 Stunden verbrachten am Wochenende Menschen mit Reclam-Heftchen im Expo-Theater, um die erste Gesamtinszenierung von Goethes „Faust I und II“ zu studieren. Peter „Le texte, c’est moi“ Stein erfüllte alle Befürchtungen: Jede Regieanweisung Goethes wurde Tat, jedes Wort eine große Betonung

von JÜRGEN BERGER

Das Frappierende an Peter Stein ist, dass er immer schon weiß, was andere sagen, bevor die überhaupt wissen, dass sie etwas sagen wollen. Junge Regisseure zum Beispiel, die auf der Bühne doch sowieso „nur herumwichsen“ ließen, wie er während eines Werkstattgespräches zu seiner „Faust“-Inszenierung feststellte: „Von mir gesehen haben die Jungen ja nie etwas, finden mich aber scheiße.“ Zur Beruhigung: Niemand findet Peter Stein wirklich „scheiße“. Nur wo der einstige Bühnenstürmer und Inbegriff eines philologisch fundierten und den Text respektierenden Regietheaters heute zu finden ist, weiß auch niemand so recht. Zu sehen ist lediglich die Metamorphose eines jungen Wilden mit wehenden 68er-Haaren zum alten Wilden mit wehenden weißen Haaren, der sich selbst zur faustischen Figur stilisiert und schon im Vorfeld seiner „Jahrhundert-Inszenierung“ die mediale Trickkiste geöffnet hat. Sein 21-stündiger Faust-Marathon sei nichts Großartiges, er nehme Goethe nur beim Wort und liefere den ersten vollständigen professionellen Faust ab, ließ er wissen. Und machte gleichzeitig deutlich, dass eigentlich nur er das könne.

Und wer an Goethes Text mäkle, verstehe ihn schlicht nicht, sagte er noch. Das ist beruhigend – für ihn – und teilt die Welt in Ignoranten und Erleuchtete, wobei Letztere am Premierenwochenende mit glänzenden Augen im Reclam-Heftchen mitlasen. Doch Steins Bekenntnis zur sanftmütigen Texttreue entpuppt sich als Hybris. Eigentlich will er sagen: „Le texte, c'est moi.“ Und genau das scheint sich als tonnenschwere Bürde auf den Schultern des jungen Christian Nickel abgelagert zu haben. Da Bruno Ganz verletzt als Darsteller des alten Faust ausgefallen ist, schultert Nickel vorerst die gesamte Textlast. Als Wirbelsäulenschutz legte er sich hierfür ein inneres Korsett zu und spricht, als habe Stein ihm jeden Goethe-Vers zum Reimschleim vorgekaut. Vom Studierzimmer bis zu Gretchens Stube, von der kaiserlichen Pfalz bis zum Altersunruhesitz des Faust betont Nickel bedeutungslastige Worte und sucht derart den Reim, dass ein arges Geleiere daraus wird. Fausts Stimmungen reichen in Nickels Version allein von verzweifelt bis anklagend. Und wenn am Ende das technische Kunstwerk einer Himmel-Erde-Spirale herabsinkt, auf dass Faust doch ins Paradies der guten Sphärenbürger erhoben werde, wandelt Nickel, wie er immer wandelte, egal was gerade angesagt war: rein weiß und leidend weich gespült.

„Solches Wandeln sieht man selten / drum lasst uns den Wandelnden darob nicht schelten“, könnte man knitteln, muss denn aber auf einen verweisen, dem der Ausbruch aus Steins Text-Isolationshaft gelang: Robert Hunger-Bühler, der als Mephisto mit dem Text spielt, Worte zerlegt, züngelt und kokettiert. Leider wird dabei immer weniger nachvollziehbar, warum Stein den Mephisto auch noch mit Johann Adam Oest besetzte. Hunger-Bühler ist der geborene Fulltime-Mephisto und bietet Hörfutter über die lange Zeit, die man den Geheimnissen eines Regiekonzepts hinterhergrübelt, das wohl keines sein will, sich ab und zu aber doch als solches gebärdet.

Vom Himmel über die Erde in die Hölle soll die Reise gehen. In „Faust II“ wird eine Tour de Force von der Antike über die Renaissance ins Mittelalter daraus, in der Stein dann endgültig letzte Reste kleiner, bühnentauglicher Geschichten unter seinem Vollständigkeitsanspruch begräbt. Ansätze solcher Geschichten gibt es in „Faust I“, wenn Faust auf Margarethe trifft und Dorothee Hartinger mit Herzblut das Mädchen spielt, schwankend zwischen Hingebung und Angst. In „Faust II“ bietet sich unter anderem die Philemon-Baucis-Episode mit dem kalt-neoliberalen, über Leichen wandelnden Faust an. Typisch allerdings, dass Stein die Episode schier überspielt und einmal mehr deutlich macht, dass es ihm nur auf eines ankam: jedes Wort inklusive aller Regieanweisungen auf dem Tablett zu servieren und dabei alle szenischen Wechsel des Metamorphosendramas auch im Wechsel von Bühnenregionen nachzuvollziehen.

Das ist ernüchternd und beraubt Goethes Antiken-Enzyklopädie nach dem Motto „Was ich so alles bei Homer, Ovid, Sophokles und anderen las, aber noch nie auf einen Haufen zu werfen wagte“ seines letzten Zaubers. Wer den „Faust“ noch nicht gelesen hat, kann hören, was man für die Bühne auf jeden Fall streichen sollte: die Mummenschanzszene im 1. Akt des „Faust II“ etwa, wenn Goethe weltgeschichtlichen Karneval spielen und Stein tatsächlich alles aufmarschieren lässt, damit ein Kindergeburtstag für Bildungsbürger draus wird. Da steht man dann, wundert und ärgert sich über die nächste unausweichliche Pause im Marathon für Warmduscher, dessen überbordende Pausenfülle nicht der Kondition des Publikums, sondern dem Umstand geschuldet ist, dass Stein kein Regisseur, sondern ein Arrangeur und Spediteur ist. Also werden Zuschauertribünen herumgeschoben, dass es eine Lust ist.

Und also dreht Stein die Uhren zurück und inszeniert ein Theater der Nachkriegszeit, in dem der Deutsche noch danach dürstete, all seine Klassiker einfach nur einmal wieder zu hören. Das ist nett für all diejenigen, die schon immer meinten, so müsse Theater eigentlich sein. Der Rest kann zur Tagesordnung übergehen und es kurios finden, dass dieser „Faust“ ausgerechnet im Expo-Kulturprogramm des Tom Stromberg zu sehen ist, der bekanntlich für jenes Theater steht, gegen das Stein immer mal wieder vom Leder zieht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen