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Manie in Close-Up

■ Virtualität wird Nebensache: „Genetik Woyzeck“ nach Büchner auf Kampnagel

Woyzeck, der Getriebene: Von der Not der Verhältnisse, eitlen Militärs und einem fortschrittsgeilen Arzt in den Wahnsinn gehetzt, tötet er die ihm untreue Marie. In der Inszenierung des Dresdener Künstlerpaares Harriet Maria Böge und Peter Meining ist der Woyzeck unserer Tage ein isolierter TV-Junkie, der mit seinen Zwangsvorstellungen von den ebenso absurden Bildschirmfratzen unverstanden bleibt.

Lars Rudolph als Woyzeck, der einzige reale Schauspieler, sitzt auf dem Sofa vor der Glotze. Im Hintergrund werden auf drei Videoleinwänden die restlichen Figuren eingespielt: Udo Lindenberg und Ben Becker teilen sich den Part des Tambourmajors, Blixa Bargeld, Otto Sander und Herbert Fritsch spielen den Doktor. Die Videotechnik ermöglicht das Klonen der Stars: Genetik Woyzek. Der Vortragsstil ist so unterschiedlich wie der verschiedener Fernsehformate: Martin Wuttke (Andres) und Eva Mattes (Marie) bleiben als die dem Woyzeck nahestehendsten Charaktere dem Dramatischen verpflichtet, während Maler Lüppertz den Text wie ein Laiendarsteller abliest, Nick Cave in gewohnter Pose den Marktschreier-Monolog über die Verwandschaft von Mensch und Tier rezitiert und Udo Lindenberg schnoddrig wie immer daherkommt. Derweil hat das Publikum die Möglichkeit, auf acht Monitoren Rudolphs eindringliche Performance zwischen Schüchternheit und Manie in Nahaufnahme zu verfolgen.Textlich hält sich die Inszenierung strikt an die Büchnerschen Fragmente. Da auch dort keine funktionierende Kommunikation zwischen dem Protagonisten und seiner Außenwelt stattfindet, beißt sich das nicht mit der Fernsehthematik. Die sprachliche Wucht Büchners drängt allerdings die multimediale Inszenierung weit in den Hintergrund.

Wenn Hanna Schygulla etwa in schwärzesten Tönen das negative Märchen erzählt, wird ihre Virtualität nebensächlich. Man hat das Gefühl, einfach einen guten Woyzeck zu sehen. Die streng frontale Anordnung der Elemente im Raum trägt dazu bei, dass der Rahmen des traditionellen Theaters nicht gesprengt wird. Wenn schließlich Tagesschausprecher Ulrich Meyer, Dr. Motte oder Schlingensief resümieren: „Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann, wir haben schon lange so kein' gehabt“, bricht sich die TV-Banalität noch einmal Bahn. Doch so banal ist die Wahrheit: Einen so schönen – sprich dramatischen – Mord sucht man im Fernsehen vergeblich.

Michael Müller

heute, 21. – 23. Okt., Kampnagel, 20.30 Uhr

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