: „Manches könnte von Westerwelle stammen“
Der katholische Sozialexperte Friedhelm Hengsbach sieht in dem Papier der Bischofskonferenz eine „Schelte des Sozialstaats“
taz: Herr Hengsbach, den „Impulstext“ der katholischen Bischöfe hätten auch die Neoliberalen in der FDP nicht besser schreiben können – oder?
Friedhelm Hengsbach: Ich habe den Eindruck, manche Passagen könnten aus dem Tagebuch des Guido Westerwelle stammen. Die Schelte des Sozialstaates ist ungewöhnlich für das katholische Milieu. Dieser führe zur Vollversorgungsmentalität, zum Anspruchsdenken, zur „komfortablen Normalität“, zu einem „Dickicht an Transferzahlungen“. Ich weiß gar nicht, welche Menschen die Bischöfe da im Auge haben, die angeblich so von den Segnungen des Sozialstaates überschüttet werden.
Kardinal Lehmann und Co. sagen, es gebe keinen Abschied vom „Sozialwort“ aus dem Jahr 1997.
Meiner Meinung nach steht an manchen Stellen das Sozialwort auf dem Kopf. Das Sozialwort mahnt Reformen an, aber innerhalb der bestehenden sozialen Systeme, die bei der Alterssicherung auf Sicherung des Lebensstandards ausgelegt sind. Diese jetzt auf ein Existenzminium abzusenken und die Sicherung von Lebensrisiken enger zu ziehen – das ist ein ungeheurer Einschnitt in die soziale Sicherung.
Es wurden keine Neoliberalen aus den USA eingeflogen – aber mit Tietmeyer und Kirchhof war die Richtung doch vorgegeben.
Man muss ja die Marktradikalen nicht mehr aus den USA einfliegen, die sitzen im Vermittlungsausschuss und in beiden großen Parteien als Vordenker. Im Beratungsgremium zum Papier sitzen neun Professoren und eine Frau, die sich als Arbeitnehmerin bezeichnen kann. Man muss das Papier gar nicht lesen, um zu wissen, aus welcher Richtung die Antworten kommen. Es sind die Antworten der bürgerlich-liberalen Katholiken. Ihre Sprache ist die der Bürgerkonvente oder der Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“.
Auch die „Option für die Armen“ aus dem „Sozialwort“ wird zitiert – taucht auch ihr Geist noch auf?
Der grundsätzliche Teil des Papiers liest sich wunderschön. Da wird einem richtig warm ums Herz. Wenn es heißt, politische Veränderungen, auch Einschnitte, verdienen nur dann den Namen einer Reform, wenn sie die Ausgegrenzten und die nachwachsende Generation im Blick haben – fantastisch. Nur: Den Ausgegrenzten wird zugemutet, dass ihre Rechtsansprüche an den Sozialstaat gekürzt werden. Sie werden auf ihre Eigenverantwortung verwiesen, auf ihre Selbstorganisation in der Familie oder der Bürgergesellschaft.
Die Stichworte Ökologie, Dritte Welt und neue Länder fehlen fast völlig, im Gegensatz zum Sozialwort.
Wenn die Bischöfe von einer Sozialpolitik mit Blick auf die zukünftigen Generationen sprechen, aber dabei die gesamte Umweltdebatte ausklammern, dann ist das eine ungeheure Verkürzung der Reformperspektive. Wenn man kommende Generationen praktisch ausschließlich aus der Perspektive der Nachwuchsförderung in der Familie sieht, dann ist das eine fehlgeleitete Therapie. Es ist die Familie der Großeltern, die vorgestellt wird. Die heutigen Familien schaffen es nicht ohne soziale Hilfe des Staates.
Wie die Bibel ist das Papier ein Steinbruch. Neoliberale werden sich daraus gut bedienen können.
Zweifellos. Allein, wie der schlanke Staat als der leistungsfähige Staat herausgestellt wird! Da werden auch Phantombilder gemalt. Ein Staat, der nur Verteilungsgerechtigkeit schaffen will, sei der heutige. Der zukünftige fördere die Einzelnen, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Die Menschen sollen neue Solidaritäten lernen, in der Familie oder den Vereinen.
Die Pflicht der Reichen zum Teilen finde ich im neuen Wort im Gegensatz zum Sozialwort nicht.
Das ist auch ein gravierender Unterschied. Im „Sozialwort“ wurde noch auf die Schieflagen bei den Einkommensverhältnissen hingewiesen. Es wurde eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit angemahnt, dazu gehört auch eine Steuer auf Vermögen. Im neuen Papier ist davon überhaupt nicht die Rede. Es geht praktisch nur darum, die Reformrhetorik der politischen Klasse noch einmal nachzusingen.
Ist nicht aber auch was Wahres dran an dem Wort, man müsse den Sozialstaat umbauen, um ihn zu retten?
Sicher, aber wenn am Ende nur die Armutsvermeidung übrig bleibt, ist dies der falsche Weg. Man müsste vielmehr die Finanzierungsgrundlage des Sozialstaats auf alle Einkommen ausdehnen. Dies spielt gar keine Rolle. Die Solidarität wird verengt. Das wird dann unter dem großen Wort der Subsidiarität auch noch gerechtfertigt, statt die Solidarität auszuweiten auf alle, die leistungsfähig sind. INTERVIEW: PHILIPP GESSLER