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„Man sieht nicht sofort, dass das Leben sich längst verändert hat“

Ein Gespräch mit der ukrainischen Kuratorin Alona Karavai über Sinn und Hoffnung von Kunst, wenn ihre Gesellschaft im steten Ausnahmezustand des Krieges ist

Alona Karavai vor dem Fassadenkunstwerk „Lachen ist verdächtig (Laughing Is Suspicious)“ von Fabian Knecht an der Neuen Nationalgalerie Berlin im Herbst 2025 Foto: Fabian Bechtle

Interview Fabian Bechtle

taz: Frau Karavai, das letzte Mal trafen wir uns vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin. An der Fassade des Museums hing die Kunstinstallation „Lachen ist verdächtig“ von Fabian Knecht, die Sie zusammen mit dem Künstler dort angebracht hatten. Können Sie beschreiben, was wir dort gesehen haben?

Alona Karavai:Dort hingen lila, grüne, gelbe und weiße Tarnnetze – und meine Lieblings-Tarnnetze, die mit den Kirschblüten – über dem Mies-van-der-Rohe-Gebäude. Es sind alles selbstgemachte Netze, die sich militärisch nicht wirklich nutzen ließen. Seit 2022, in jedem Kultur- und jedem Community-Zentrum in der Ukraine, versammeln sich die Menschen, um solche Tarnnetze anzufertigen. Eine richtige Bewegung. Die Arbeit von Fabian Knecht handelt also vom Zusammenhalt, davon, wie die Menschen zusammenkommen und versuchen, ihre Wirkmacht wiederzufinden – auch in komplizierten Situationen.

taz: Woran denken Sie, wenn Sie auch hier in Deutschland solche Tarnnetze an einer Gebäudefassade sehen, ist hier etwa der militärische Look in der Kunst angekommen?

Karavai: Ich würde das ungern so sehen. Aber dieses Gefühl, dass sich einiges verändert hat, das habe ich schon. Neulich wurde ich bei einer Podiumsdiskussion gefragt, wann ich verstanden habe, dass Krieg ist in der Ukraine. Ich komme aus Donezk, und ich habe gemeint, dass es für mich diesen Moment gar nicht gab. Irgendwie hatte sich der Zustand einfach eingeschlichen. Und dann habe ich gewagt zu sagen: Vielleicht ist er hier auch schon angekommen – wir sehen es nur nicht. Also diese ersten Anzeichen, dass das Leben sich längst verändert hat. Der Krieg hat ganz unterschiedliche Formen, man erkennt ihn nicht sofort.

taz: Wann haben Sie gemerkt, dass sich die ukrainische Gegenwartskunst aufgrund des Kriegs verändert hat?

Karavai: Das ist ja sehr subjektiv. Das Jahr 2014 veränderte für nur wenige Künstlerinnen und Künstler etwas. Erst um 2019 oder 2020 herum kam dann bei einem Teil der ukrainischen Kunstszene der Gedanke auf, sich jetzt doch einmal mit dem Donbass oder der Krim auseinanderzusetzen. Für den anderen Teil schien das alles schon wieder vorbei. 2022 hat sich dann plötzlich alles verändert, für fast alle.

taz: Wie gehen die ukrainischen Künstlerinnen und Künstler mit dem Krieg um? Geht es eher darum, den Reality-Check im Ausstellungsraum vorzuführen, oder um Eskapismus?

Karavai: Eskapismus gibt es kaum. Das vermissen einige Leute – und ich vermisse das auch. Es gibt ziemlich wenige Künstlerinnen und Künstler, die sagen: Okay, wir gehen jetzt in die abstrakte Form. Die jetzige Kunst in der Ukraine ist sehr realitätsnah. Man ist fast darin gefangen, kann über nichts anderes sprechen. Da spielt auch so etwas wie Selbstzensur eine Rolle, denn es gibt diese große Sache, die Katastrophe, die alles andere ausblendet. Dann sind die kleinen privaten Katastrophen unwichtig. Obwohl auch sie Räume eröffnen, in denen man über etwas anderes nachdenken kann, über die Zukunft, über Visionen. Diese Räume sind notwendig. Wir brauchen ebenso eine Kunst dafür, Kunst muss auch verschieden sein können.

taz: Was denken Sie, ist hier die Forderung angekommen, dass die Kunst sich verändern muss?

Karavai: Ich würde sagen, es ist nicht angekommen. Ich sehe in der Kunst hier ziemlich viel Business as usual, auch viel formalen Perfektionismus.

taz: Vermutlich ist sie nicht angekommen – aber ich habe dazu auch eine Theorie: Die westliche Kunst lebt ganz viel von der Selbstbehauptung, radikal zu sein. Wenn man jetzt zum Beispiel nicht in einem System wie China lebt oder nicht in einem Krieg, ist es schwer mit der Radikalität. Vielleicht sind Teile der Kunstszene im Westen ein bisschen neidisch auf den Ausnahmezustand in der Ukraine.

Karavai: Also, ich weiß nicht. Aber wie Sie das so sagen, muss ich an meine Tochter denken. Sie ist 14 Jahre alt. Sie versucht immer wieder zu protestieren, obwohl es bei mir nicht so viel zu protestieren gibt. Deshalb fängt sie schon bei superkleinen, unwichtigen Dingen an zu widersprechen. Ich selbst möchte viel lieber ein langweiliges Leben leben, ich habe genug vom Ausnahmezustand.

taz: Protestieren Sie nicht auch?

Karavai: Wir organisieren zwar keine Demos, aber zum Beispiel haben wir erstmals mit Erfolg eine Klage gegen den Stadtrat von Iwano-Frankiwsk eingereicht, weil dieser unserer Meinung nach seine Befugnisse überschritten hat. Er hatte in einem Appell an das Parlament Werchowna Rada in Kyjiw ein Abtreibungsverbot und entsprechende Verfassungsänderungen gefordert. Das konnten wir nicht hinnehmen. Gerade ist die Stadt aber leider in Berufung gegangen.

taz: Sie sind künstlerisch tätig und zivilgesellschaftlich engagiert?

Alona Karavai,ist Kuratorin, Autorin und Kulturmanagerin aus der Ukraine. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Kunst, Bildung und Zivilgesellschaft. Sie ist Mitbegründerin der demokratiefördernden Initiative Insha Osvita und leitet das Kunsthaus Asortymentna Kimnata in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiws k.

Karavai: Ja, das eine geht ohne das andere nicht. Und das ist bei mir seit 2014 so. Man muss beides machen, denn es geht auch um die Zukunft, um die Zeit nach dem Krieg. In welcher Gesellschaft wollen wir dann leben? Wenn das eine misogyne Gesellschaft ist, in der Frauen zum Beispiel kein Recht auf Abtreibung haben, dann wäre es auch nicht nötig, dass wir uns jetzt gegen Russland verteidigen.

taz: Aber Zeiten des Krieges sind auch nicht die Zeiten für Frauen.

Karavai: Ja und nein. Wir sprechen ganz viel darüber, was jetzt Feminismus in der Ukrai­ne bedeutet. In diesem Moment zum Beispiel, in dem ich jetzt in Berlin bin und viele meiner männlichen Kollegen das aufgrund ihres Kriegsdiensts nicht können. Es gibt gerade so eine ganz, ganz kurze Periode, in der Frauen mehr Freiheit haben als Männer. Mal schauen, wie lange das anhält. Früher haben Männer Frauen gejagt, und jetzt – im Krieg – jagen Männer Männer und Frauen können irgendwie ihr Ding machen.

taz: Und Sie machen viel.

Karavai: Bei uns sind politische, soziale und kuratorische Fragen sehr eng miteinander verbunden. Wir haben ein gemeinsames Ausstellungs- und Künstlerprogramm, das Künstler, die jetzt gerade an der Front sind, mit denen zusammenbringt, die nicht kämpfen müssen. Wir geben auch Künstlern im Kriegsdienst die Möglichkeit, als Künstler weiterhin präsent zu bleiben. Das ist uns ein Anliegen. Oder wir arbeiten an Programmen für Künstlerinnen, die im Ausland sind. Denn natürlich gibt es auch gewisse Spannungen zwischen denen, die geblieben sind, und jenen, die gegangen sind.

In Zeiten des Krieges lebst du dein bestes und dein schlechtestes Leben gleichzeitig

Alona Karavai, Kuratorin

taz: Sie werden bestimmt immer danach gefragt, ich frage Sie jetzt auch: In Ihrer Rolle als politische Beobachterin und kulturelle Übersetzerin, wie sieht Ihr Blick in die Zukunft aus?

Karavai: Ich war neulich bei dieser Podiumsdiskussion, die hieß „Trümmer und Träume“. Ich bin für die Trümmer zuständig. Unsere Ausstellung Where It All Goesim Asortymentna Kimnata wurde von meinem Kollegen, dem Kurator und Künstler Clemens Poole, als sehr pessimistisch beschrieben. Ja, es war eine ziemlich postapokalyptische Ausstellung. Sie spiegelt auch meine Vorstellung davon wider, wie es weiterlaufen könnte. Es wird komplizierter werden, schwerer, aber der Krieg wird irgendwann vorbei sein. Und dann ist vielleicht die größte Schwierigkeit für die ukrainische Kunstszene, wieder zu lernen, langweilig zu leben. Das ist nicht einfach. Denn in Zeiten des Krieges lebst du dein bestes und dein schlechtestes Leben gleichzeitig. Du fühlst alles viel stärker. Dann wieder zum Langweiligen, Normalen zurückzukehren – denn es ist ja nicht normal, alles so gleichzeitig so stark zu fühlen – wird vermutlich eine große Herausforderung für diejenigen von uns, die das alles jetzt überleben werden.

taz: Glauben Sie, das wird ausreichend verstanden, zum Beispiel von Ihren Kollegen hier in Deutschland?

Karavai: Das wird sogar romantisiert, dieser ganze Trend rund um Resilienz und Courage und „Be brave like Ukrainians“. Stimmt, das alles gibt es – aber nur, weil es eine unnormale Situation ist. In normalen Situationen muss man nicht so resilient sein, muss man nicht so hartnäckig sein. Und was mich stört, ist, dass diese Unnormalität wieder zur Normalität wird.

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