Maja Göpel über neue Ideen und Allianzen : Die Zukunft der Mitte
Alle liberaldemokratischen Parteien beanspruchen „die Mitte“ für sich. Aber keine kann sagen, wer wir dort in Zukunft sein werden. Das sollten sie schleunigst formulieren.

taz FUTURZWEI | Wir können nur das erschaffen, was wir uns auch vorstellen können. Ob es um normative Kulturmuster, technologische Erfindungen, politische Regeln oder Produkte und Dienstleistungen geht, all das haben sich mal Menschen vor uns ausgedacht – meist mit einem Ziel vor Augen.
Nicht selten entwickeln unsere Erschaffungen dann ein Eigenleben und verselbstständigen sich als unsere Normalität.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?
Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?
Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.
Wir machen so weiter wie bisher und denken wenig drüber nach, warum das die beste aller Vorstellungen gewesen sein soll. Fällt das Neudenken und Andersmachen über eine längere Zeit zu schwach oder unbeherzt aus, führt das in aller Regel zu Krisen wie denen, die wir heute erleben.
Womit wir beim Kernproblem der heutigen politischen Debatte sind.
Die größte Strukturkrise seit dem Zweiten Weltkrieg
Inmitten der größten Strukturkrise seit dem Zweiten Weltkrieg – und da ist die Implosion der Ökosysteme nicht einmal mitgerechnet – gilt jede Form von Veränderungsmut als Zumutung. „Die Mitte“ ist zu einem amorphen und undefinierten Etwas geworden, das so gut wie jede Partei für sich deklariert und die es am liebsten weiter so haben will wie gewohnt.
So lesen wir es auch im Koalitionsvertrag der neuen Regierung, „Verantwortung für Deutschland“ zu übernehmen, bedeutet in einem Satz: Die Menschen wollen Stabilität, Sicherheit, Zusammenhalt, also sorgen wir dafür, dass es wieder aufhört zu ruckeln.
Eine wirklich ernsthafte Beschreibung der Gesamtsituation und der Ursprünge des Ruckelns stört dabei nur. Eigentlich reicht es ja, wenn die Woken in die Schranken gewiesen werden. Mit weniger irritierender Migration, hässlichen Windmühlen, moralinsauren Tier- und Naturschutzauflagen, kulturstrapazierenden Frauenquoten und Teilzeitansprüchen für Care-Arbeit wird es endlich wieder stabil.
Das hat die letzten 25 Jahre nämlich echt anstrengend gemacht. Also lieber wieder weg damit, ab in die Schublade mit den sozialen, ökologischen und ökonomischen Nebenwirkungen einer Normalität, die doch für die Privilegierten so bequem war.
Die Pervertierung der Zukunft durch die Milliardäre
Und so belagern erneut die Männer mit viel Geld und Macht unseren Vorstellungsraum von Zukunft. Nur dass sich der Kreis, für den sie Privilegien sichern und ausbauen wollen, rasant verkleinert.
In der libertären Version der Zukunftsvorstellung wird dafür weiter von „freien Märkten“ gesprochen, wenn die Kontrolle über menschliche Daseinsvorsorge, kritische Infrastrukturen und wirtschaftliche Regelsetzung längst in wenigen Oligopolen organisiert wird, die Dividenden wie Aktienkurse absichern und Wettbewerber vom Hals halten.
Ökonomische Machtausübung und Erpressung werden zu unternehmerischer Genialität. Dank der ausgeprägten Technologieverklärung, an deren Entwicklung natürlich viele dieser Zukunftserzähler ordentlich verdienen, werden Sorgen um planetare Grenzen zur Gesinnung und Empathie zur größten menschlichen Schwäche erklärt; wer nicht mitkommt, ist eben leider nur mittelmäßig und damit weniger wertvoll, hier sollten Sozialsysteme auch nicht zu verschwenderisch mitziehen.
Die rechtsextreme Variante teilt auch in mehr und weniger wertvolle Menschen ein, parkt die Kontrolle aber weiter beim Staat statt bei den Tech-Bros.
Rücksicht auf Diversität in Natur und Gesellschaft oder Empathie gelten als ähnlich schwächlich, nur wird die Linie der Inklusion nicht entlang der Produktivität und des Geldmachens gezogen, sondern entlang der Nationalität.
Es sind die Defizite, Handlungen oder Ansprüche „der Anderen“, die für den Wohlstandsverlust oder mangelnden Selbstwert „des Volkes“ verantwortlich sind. Mit ihrer Abschiebung wird es für die auserwählte Gruppe auch wieder ein goldenes Zeitalter.
Wohlstand für Auserwählte liegt damit immer offensichtlicher als Vorstellung von Zukunft auf dem Tisch. Die Scham, das „für alle“ zu ersetzen, schwindet mit jedem Post von Trump und Musk. Und was macht die „Mitte“? Sie lässt sich davon treiben.
Anstatt einen eigenen Zukunftsentwurf zu verteidigen, in dem das „alle“ als Ausgangspunkt für die Lösungen gilt, wird jeder Gestaltungsmut in diese Richtung gleich im Keim zerschossen: „Wenn die xyz machen (setzen Sie jedwede Maßnahme ein), dann ist die AfD bald bei vierzig Prozent.“
Falsch verstandener Wettkampf
Warum das so sein sollte, braucht dann nicht mal mehr ausbuchstabiert werden. Um das Programm der „gegnerischen Parteien“ anzugreifen, reicht dieser Kapitulationssatz.
Und so wabern die liberaldemokratischen Parteien in ihrem falsch verstandenen Wettkampf weiter, während die Deutungshoheit darüber, was „die Bürger:innen“ nun gefälligst von der Politik erwarten können, genauso in die Hände der Demokratiefeinde fällt.
Dazu gehört auch die Idee, dass Politik die Bürger:innenwünsche einfach servieren könnte, wenn sie denn nur wollte. Ein Gesamtbild und Verständnis der strukturellen Krisen und ihrer Ursprünge rückt immer weiter in den Hintergrund.
Dabei würde aus genau diesem geteilten Verständnis die Wirksamkeit entstehen, mutige und kooperative Vorstellungen von Zukunft in die Welt zu tragen und Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu rücken.
Stattdessen wird ständig wiederholt, dass es in Deutschland für vierzig Prozent der Menschen ganz normal sein wird, aus Unzufriedenheit zu Rechtsextremen zu wechseln. Also passiert das zunehmend.
Um diese Entwicklung noch aufzuhalten, brauchen wir also schnell eine klare Vorstellung von Mitte-mäßig. Dafür müssen sich liberaldemokratische Parteien der AfD-Kapitulationsformel verweigern und deutlich aussprechen, für welche Zukunft und welches Wohlstandsmodell sie stehen und warum die Kategorie „alle“ darin zentral ist.
Ein neues Programm für Sicherheit
Mit einem Programm für Sicherheit zum Beispiel, das sich nicht auf Militär verkürzt, sondern die Versorgungssicherheit durch ausreichend sauberes Wasser und saubere Luft, durch langfristige Fruchtbarkeit der Böden und Bestäubung der Pflanzen zur Nahrungssicherung genauso mitdenkt wie gesicherten Zugang zu angemessenem Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Bildung und Pflegeleistungen.
Ein Programm, das Selbstsicherheit zurückerobert, weil die absurde Sonntagsfrage durch vernünftige Berichterstattung über die Wirkung politischen Handelns ersetzt wird. Auch das sensationsgeile Aufbauschen von Problemen oder Fehltritten weicht einem Fokus auf das Gelingende und die vielen Alltagsheld:innen, die dieses Land jeden Tag nach vorn bringen und zusammenhalten – ohne dabei irre viel Geld zu verlangen, zu verbraten oder andere zu diffamieren, um sich selbst zu inszenieren.
Kooperation wird zum Sicherheitsanker, wenn Arbeitsteilung, Steuerzahlung und Wertschätzung in der Gesellschaft so abgesichert werden, dass alle verbindlich beitragen und damit in der Summe wieder viele Freiheiten entstehen. Für alle. Das wäre die Essenz eines neuen Gesellschaftsvertrages.
Es gibt dafür Mehrheiten. Zentral wird daher – wie schon in der Geschichte – die konservative Partei sein. Wer will sie in diesem historischen Moment gewesen sein?
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