piwik no script img

Mahnwachen in Deutschland"Gib mir eine Fahne!"

Mit Mahnwachen an über 400 Orten reagierten bundesweit mehr als 100.000 Menschen auf die Atomkatastrophe in Japan. Sie forderten von der Regierung weitergehende Maßnahmen.

Kleine Gegner mit langer Laufzeit. Bild: dpa

BERLIN taz | Sie stehen vor dem Kanzleramt, vielen treibt die Wut die Tränen in die Augen. Einige Grablichter und weiße Nelken liegen vor dem Zaun am Sitz der Bundeskanzlerin. "Merkel hat nicht Angst vor Strahlen, Merkel hat nur Angst vor Wahlen", steht auf einem Plakat. Auf den Schultern einer jungen Mutter sitzt ein Kind und sagt: "Mama, ich will auch eine Fahne haben."

Berlin, Bundeskanzleramt. Hier stehen an diesem Montagabend nur 2.000 Menschen, von insgesamt über 100.000 DemonstrantInnen, die die atomkritische Initiative "ausgestrahlt" gezählt hat. In über 400 deutschen Orten und Städten reagierten Menschen am Montagabend spontan auf die Reaktorkatastrophe in Japan und die Energiepolitik der Bundesregierung.

Hier, wo Angela Merkel für Dienstagfrüh die Ministerpräsidenten der Länder zum Atomkrisengipfel zusammengerufen hat, ist jetzt die Opposition versammelt. Alle sind sie da: SPD-Chef Sigmar Gabriel, die Grünen-Spitzenkandidatin Renate Künast, Linke-Chefin Gesine Lötzsch, DGB-Chef Michael Sommer, viele von den Verbänden, von Attac, dem BUND, von Anti-Atom-Initiativen wie "ausgestrahlt" und Campact. Die Stimmung ist bedrückend, die Menschen sind empört. Immer wieder werden die Reden der Parteiprominenz von lautstarken Rufen unterbrochen: "Abschalten, Abschalten!"

Die Botschaft dieses Protests ist eindeutig: Das von Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigte Moratorium zur Laufzeitverlängerung beruhigt hier niemanden. Während die Agenturen melden, dass die ersten alten Atommeiler in Deutschland vom Netz gehen sollen, fordern die Atomkraftgegner und die Opposition hier das sofortige Aus der sieben ältesten deutschen Atomkraftwerke sowie des Pannenreaktors Krümmel.

"Noch nie in der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung haben an so kurzfristig angesetzten Demonstrationen so viele Menschen teilgenommen. Der massive Zulauf zu den Protesten zeigt, dass die Bundeskanzlerin mit ihrer Moratoriums-Strategie gescheitert ist. Die Bevölkerung nimmt ihr nicht ab, dass sie es in puncto Sicherheit ernst meint", sagte Jochen Stay, Sprecher von "ausgestrahlt". Die Initiative hatte erst am Sonntag zu dezentralen Mahnwachen in ganz Deutschland aufgerufen. Dem waren in rasender Eile zunächst dutzende, dann hunderte Initiativen vor Ort gefolgt.

Auch für die kommenden Wochen kann sich die Bundesregierung auf zähen Widerstand einstellen. Nachdem bereits am vergangenen Samstag in Baden-Württemberg rund 60.000 Menschen gegen Atomkraft demonstriert hatten, rufen seit Montag erneut zahlreiche Organisationen, Initiativen und Verbände zu weiteren Großdemonstrationen und dezentralen Protesten in den kommenden Wochen auf. Am Montag begannen Organisationen wie der BUND, Attac, Robin Wood, die Naturfreunde und ausgestrahlt mit der Mobilisierung für die zentralen Großdemonstrationen noch vor der anstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg. Dort wird am 27. März über die Zukunft der CDU und damit auch der dort traditionell sehr atomfreundlichen Politik abgestimmt. Einen Tag zuvor, am 26. März, soll es nun in Berlin, Köln und Hamburg und gegebenenfalls noch in weiteren deutschen Städten zu Großdemonstrationen kommen.

Für den 9. April dann ist ein weiterer dezentraler Aktionstag geplant. Und am Ostermontag, den 25. April, wollen Atomkraftgegner anlässlich des 25. Jahrestages der Tschernobyl-Katastrophe an 13 deutschen Atomkraftwerken und Atommüllagern erneut mit Massenprotesten demonstrieren.

Damit kann sich die Bundesregierung auf große gesellschaftliche Auseinandersetzungen einstellen. Bereits im Herbst 2010, als die schwarz-gelbe Koalition die nun vorerst ausgesetzte Laufzeitverlängerung beschlossen hatte, war es in Deutschland immer wieder zu massiven Protesten gekommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • W
    webbster

    Ich finde es sehr gut das Zeichen in dieser Größenordnung gegen die Atomkraft gesezt werden!

    Aber ich finde es Schade, dass erst was passieren muss, bevor irgendwie irgendwas passiert.

  • T
    tystie

    Ich halte diese dezentralen Demos für ein ausgezeichnetes Konzept.

    Als sich im vergangenen Herbst über 100.000 Menschen die Mühe machten, vor dem Kanzlerinnenpuff in Berlin zu demonstrieren, hat die das selbstverständlich nicht gekratzt, ignorant wie sie nun mal ist.

    Die Demos an den Wohnorten der Bevölkerung geben sehr viel mehr Menschen die Möglichkeit, sich zu beteiligen, genau da, wo es darauf ankommt!

     

    Wir haben es nicht nötig, Politstars hinterherzulaufen! Es gehört zur Demokratie, dass die Bevölkerung entscheidet, da, wo sie ist!

     

    Auch die beliebigen Petitionen von 'campact' gehen in die falsche Richtung! Die Monarchie ist abgeschafft und Merkel ist nichts als eine Bedienstete auf Abruf - der sowieso überfällig ist!

    Ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken, führt nur zur weiteren Steigerung ihrer psychopathischen Selbstüberschätzung.

  • MD
    Michael Droß

    In München versammelten sich gestern Abend geschätzt an die 3000 Menschen auf dem Stachus. Eine kleine Tribüne war aufgebaut worden. Der Veranstalter - Green City - hatte sicher nicht mit so vielen Menschen gerechnet, daher war die Lautsprecheranlage nicht ausreichend. Etwa in der Mitte der Menge stehend hörten wir nur Satzfetzen. Zwischendurch gab es immer wieder die "Abschalten!"-Rufe. Wir sprachen mit den Umstehenden. Viel Sorge um die Menschen in Japan kam zum Ausdruck, aber auch Wut über das durchsichtige Manöver der Bundesregierung, das Verlängerungsmoratorium. Die Kundgebung wurde vom Veranstalter aufgelöst, doch gleich anschließend gab es einen langen Demonstrationszug zur EON-Zentrale und dann wieder in Gegenrichtung zur Staatskanzlei. Es war eine eindrucksvolle Menschenmenge, mindestens in Ostermarschstärke, die durch die dunklen Straßen zog. Dass so viele Menschen in so kurzer Zeit zusammenfanden, ist ein deutliches Zeichen. An der Staatskanzlei gab es einige kurze Reden und eine Schweigeminute. Zum Abschied die Überraschung: Nächsten Montag treffen wir uns wieder um 19 Uhr am Stachus. Genau das ist es, weiterdemonstrieren, nicht nur ein Mal. Jetzt wollen wir den Ausstieg erreichen.

  • WB
    Wolfgang Bieber

    Solange es AKWs gibt, müssen wir mit der Gefahr eines Super-GAUs leben. Auf Dauer ist dieses Risiko nicht zu verantworten. Ein sofortiger Atomausstieg wäre trotzdem falsch: http://bit.ly/ehBIkZ

  • IL
    immo lünzer

    Natürlich war ich gestern auch dabei und ich hoffe weiter:

    Ökologisches & ganzheitliches Wirtschaften

    - endlich ANSCHALTEN!

  • B
    bernhard

    ganz ehrlich? ich finde es abstossend und widerlich - diese heuchlerischkeit, mit der bestimmte personen ihre visagen jetzt ins rampenlicht stellen.

    und die leute ebenfalls.

    ja, schaltet ab. sofort und alles. und zahlt dann aber auch gefälligst die dementsprechenden stromrechnungen. schluss mit 50-60€/monat.

    als die sozen und grünen dran waren, ist genauso viel und wenig passiert, als jetzt unter schwarz/gelb.

    los, demonstriert euch die beine in den bauch und seid einfach mal wieder gegen alles. rot/grün muss wieder her. jawoll! deutschland braucht den endgültigen genickbruch. am besten wird trittin kanzler und die roth aussenministerin. juchuu!

    auf die scheiss freu ich mich jetzt schon, die die beiden bauen.

    aber last sie wenigstens solange am regieren, bis sie sich allesamt ihre pöstchen in der industrie gesichert haben. damit man ihre feisten visagen fett werden sieht, genau wie die fischers.

     

    was ist aus deutschland bloss ein einzig jammerland geworden.

  • K
    klaus

    Nur in Deutschland gibt es Atom Hysterie. Frankreich, Schweden und Finnland halten am Atomstrom fest.

     

    Sind wird Deutschen wieder schlauer als der Rest der Welt?

     

    Gerade wir Deutschen... das ist doch ein Sast den die TAZ Redaktion immer so gern verwendet

  • S
    spiritofbee

    Es ist einfach erbärmlich für die Spezies Mensch, das es in unserer Entwicklung so vieler Opfer bedarf, um uns auf diesem Planeten endlich zur Vernunft kommen zu lassen.

  • BR
    Boykin Reynolds

    Es bewegt sich endlich was im Lande! Ich wohne seit 21 Jahren in Frankfurt und ich habe noch nie so eine große spontane Mahnwache (und Demonstration) erlebt, die heute wortwörtlich übernacht zustande gekommen ist. 1500 Teilnehmer allen Alters. Und die Szene hat sich in 400 anderen Städten wiederholt. Aber mit keinem Wort haben weder ARD noch ZDF noch Der Spiegel sie erwähnt.

     

    Und die Bundeskanzlerin stammelt nur: „Denn die Ereignisse in Japan, die lehren uns, dass etwas was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde doch möglich werden konnte“ und das heißt wohl „Die Bundesregierung will auf EU-Ebene und mit den G-20 Staaten über höhere Sicherheitsstandards von Atomkraftwerken sprechen.“

     

    DIE HABEN NOCH GAR NICHTS KAPIERT!!!

    Wir wollen keine "sicherere" AKWs, sondern GAR KEINE!!! Beim nächsten Mal sollten wir auch die Redaktionen und den Bundestag besetzen!

  • A
    allaOM

    Ich bin dabei...

    ...und Du