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Mahnwache vor einer Synagoge in BerlinLanger Atem gegen Antisemitismus

Seit knapp zwei Jahren versammeln sich jeden Freitag solidarische Menschen vor der Synagoge in Kreuzberg. Sie wollen damit die Gemeinde unterstützen.

100 Wochen Solidarität: Portraits der entführten Geiseln hängen am Zaun des Fraenkelufers Foto: Miriam Klingl

Eine ältere Frau zündet am Freitagabend eine Kerze an und stellt sie behutsam zu den anderen auf den Boden, direkt gegenüber vom Eingang der Synagoge in Kreuzberg. Auf dem Fußgängerweg am Fraenkelufer, gegenüber von der Synagoge, findet sich eine kleine Gruppe von Menschen zur Mahnwache zusammen. Nach und nach kommen Gemeindemitglieder der Synagoge zum Gottesdienst an.

Am Eingangstor der Synagoge hängen auch heute noch mehrere Plakate von den in den Gazastreifen verschleppten Geiseln, manche Be­su­che­r:in­nen hängen bei ihrer Ankunft Blumen daneben auf. Ein paar Un­ter­stüt­ze­r:in­nen haben Sekt mitgebracht. Sie wollen auf knapp zwei Jahre ungebrochene Solidarität anstoßen. Es ist ihre 100. Mahnwache, seit Oktober 2023 kam ausnahmslos jeden Freitag eine zustande, auch im Winter. Häufig bleiben die Teil­neh­me­r:in­nen nach dem Gottesdienst zum gemeinsamen Essen. Mittlerweile sind viele persönliche Beziehungen entstanden.

Die Nachbarschaftsinitiative hatte sich wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023 spontan organisiert. Zuvor hatte die Hamas international zu Gewalt gegen Jü­din­nen:­Ju­den aufgerufen. In der jüdischen Community war die Sorge groß, viele fragten, ob sie Synagogen oder jüdische Einrichtungen besuchen könnten, besonders an Schabbat, erinnert sich Nina Peretz, Vorstandsmitglied der Synagoge.

„Ich konnte selbst keine Antwort auf diese Fragen geben, die Situation war neu und dramatisch.“ Sie kontaktierte einen Bekannten, der die erste Versammlung organisierte. Daraufhin versammelten sich am Freitag, den 13. Oktober 2023, Hunderte Menschen zur ersten Mahnwache vor der Synagoge am Fraenkelufer und blieben dort, bis der Gottesdienst beendet wurde. „Für die Gemeindemitglieder und für mich selbst war das überwältigend“, sagt Peretz. „Ein unerwartetes, starkes Zeichen in finsteren Zeiten“, sagt sie.

Antisemitischer Hass nimmt zu

Julia Ertl nimmt gemeinsam mit ihrem Partner regelmäßig an den Mahnwachen teil. „Die ersten Wochen nach dem 7. Oktober wollte eine Nachbarin von uns die Wohnung kaum verlassen und hat sich nicht getraut, zur Synagoge zu gehen“, erinnert sie sich. Die Bedrohungslage für Jü­din­nen:­Ju­den habe sich seitdem verschlimmert. Sie komme, um ihre Solidarität mit ihren jüdischen Nach­ba­r:in­nen auszudrücken und symbolisch ihr Recht zu schützen, ohne Angst die Synagoge zu besuchen.

Wenn die Situation in Israel und Palästina eskaliert, macht sich das auch in Berlin bemerkbar, das ist seit vielen Jahren so. Doch seit dem 7. Oktober entlädt sich der antisemitische Hass in Berlin immer deutlicher. Der Angriff auf das jüdische Gemeindezentrum in der Brunnenstraße in Mitte. „Fuck Israel“ und „Free Palestine“ Schmierereien am Mahnmal zur Erinnerung an deportierte Jü­din­nen:­Ju­den in der Levetzowstraße in Moabit. Der körperliche Angriff auf eine junge Israelin am Neuköllner Hermannplatz, weil sie Hebräisch sprach. Der jüdische Student Lahav Shapira, den ein Kommilitone in Mitte krankenhausreif prügelte.

Angriffe auf jüdische Einrichtungen nehmen weiterhin zu, und Vernichtungsfantasien gegenüber Jü­din­nen:­Ju­den werden immer unverhohlener geäußert. Auch deswegen empfiehlt der Vorstand der Synagoge am Fraenkelufer seinen Gemeindemitgliedern immer noch, lieber nicht mit Kippa das Haus zu verlassen, sondern diese erst in der Synagoge aufzusetzen. Dies würden auch alle anderen Synagogen so handhaben, Menschen mit Kippa sind in Berlin so gut wie gar nicht auf der Straße sehen.

„Leider ist die Mahnwache noch genauso nötig wie die erste Mahnwache“, sagt eine Teilnehmerin. „Eigentlich sollte man erwarten, dass hier jeden Freitag tausend Leute stehen“, findet sie. In anderen Städten sei die Unterstützung für jüdische Gemeinden viel größer. Und das, „wo wir insbesondere in Berlin zunehmend merken, wie sich der Hass gegen Jü­din­nen:­Ju­den und Israel als Ganzes normalisiert“. Offene und versteckte Gewaltaufrufe gegenüber Jü­din­nen:­Ju­den und Israelis stecken etwa in Graffitis wie „kill a zionist“ und „death to the IDF“, oder zeigen sich an vor Hauseingänge gesprayte Davidsterne. Geiselplakate werden regelmäßig abgerissenen. Ein klares Signal, dass Jü­din­nen:­Ju­den und Israelis für viele in der Stadt nicht willkommen sind.

Antisemitismus drängt ins Privatleben

Offener Antisemitismus prägt nicht nur das Berliner Stadtbild, sondern auch zunehmend das private Leben von Betroffenen. Auf Webseiten wie WG-gesucht, in Wohnungstausch-Börsen oder auf Dating-Plattformen schreiben Nut­ze­r:in­nen mittlerweile ganz selbstverständlich „No Zionists!“, „Bitte keine Zionisten“, ohne dass andere Nut­ze­r:in­nen oder die Plattformen selbst dagegen vorgehen. All das im vermeintlichen Einsatz für Moralität und Menschenrechte, während die vermeintlich Anderen zunehmend entmenschlicht werden.

Besonders habe sie die Kälte und Empathielosigkeit in ihrem privaten Umfeld erschüttert, sagt eine Besucherin der Synagoge. Selbst im progressiven gesellschaftlichem Milieu werden antisemitische Erfahrungen relativiert oder Betroffenen gar abgesprochen. Die zentrale antisemitische Erzählungen von vermeintlich mächtigen oder „privilegierten“ Jü­din­nen:­Ju­den schlägt sich auch in linken Diskursen um Betroffenheit und Täterschaft nieder.

Offene Sichtbarkeit ist nicht nur für Jü­din­nen:­Ju­den gefährlich, sondern auch für solidarische Menschen. Mahnwachenbesucher Bert Ertl war im Juni am Gleisdreieck von einem Mann mit einem Messer bedroht worden. Ertl trug ein T-Shirt mit einem Davidstern-Aufdruck. Das T-Shirt trägt er auch am Freitag.

Von dem Angriff will er sich nicht einschüchtern lassen. „Berlin gilt als Stadt, in der man so ziemlich jede Freiheit hat. Aber wenn man als jüdische Person gelesen wird, endet diese Freiheit sehr schnell“, sagt Ertl. Dass Antisemitismus für Menschen der Mehrheitsgesellschaft nicht so sichtbar sei, liege vor allem daran, dass die jüdische Gemeinschaft sich zurückhalte, wenn es um jüdische Symboliken ginge und aus Angst vor offenem Hass häufig unsichtbar bliebe. Diesen Zustand findet Ertl nicht hinnehmbar. Er und seine Partnerin wollen auch in Zukunft weiter an den Mahnwachen teilnehmen. „Solange es Antisemitismus gibt und solange unsere Nach­ba­r:in­nen sich nicht sicher fühlen können“, sagen sie.

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