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MagazinStalins Terror

Kommentar von Alexander Cammann

Wie war Moskau 1937? Die neue Ausgabe von "Lettre International" legt es dar.

Erinnerung kann sein: Über das Erlebte schreiben oder ein Mahnmal besuchen. Wie hier, die Gedenkstätte für Stalin-Opfer Bild: dpa

A ls die russische Dichterin Anna Achmatowa in Leningrad 1938 nach der Verhaftung ihres Sohnes gemeinsam mit tausenden anderen Frauen in der Schlange vor dem Gefängnis stand, da löste sich eine Frau aus der Erstarrung und fragte flüsternd die von ihr erkannte Dichterin: "Und Sie können das beschreiben?" Achmatowa sagte: "Ja". 20 Jahre später erinnerte sie sich an die Reaktion der Frau: "Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war." Diese Szene steht am Anfang von Achmatowas bewegendem Gedichtzyklus "Requiem", den sie 1935 begann und der in der Sowjetunion nie erscheinen konnte.

Karl Schlögel, preisgekrönter Essayist und Osteuropa-Historiker an der Europa-Universität in Frankfurt (Oder), gewährt in der Frühjahrsausgabe von Lettre International umfassenden Einblick in sein aktuelles gigantisches Beschreibungsprojekt: Moskau im Jahr 1937. In diesem Jahr erreichte der stalinistische Terror seinen Höhepunkt mit Schauprozessen und Massenverhaftungen. Am 30. Juli erging der geheime Befehl 00447 des Innenministeriums: "Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente", in dem regionale Quoten für zu Verhaftende und zu Erschießende festgelegt waren: Von 268.950 Personen sollten 75.950 erschossen werden, allein in Moskau waren es 30.000 Verhaftete und 5.000 sofort zu Erschießende. Der Befehl ist, so Schlögel, selbst in der unendlichen Reihe von Fürchterlichkeiten des Jahres 1937 ein "ungeheuerliches Dokument", weil es "Anweisung zum Massenmord nach Planvorgaben" gibt. Im Furor dieses Terrors gingen am Ende die Feinde aus: "Es gab nicht mehr genügend Polen, wie sie die 'Polenaktion' gefordert hatte, irgendwann gab es nicht mehr genügend Deutsche und irgendwann nicht mehr genügend Japaner, die als Agenten hätten fungieren können."

So sieht sie aus: die aktuelle Ausgabe von Lettre Bild: lettre

Schlögels Moskau-Projekt war lange dem "Passagen"-Werk Walter Benjamins verpflichtet. Dessen Versuch, das bürgerliches Zeitalter des 19. Jahrhunderts zu erfassen, funktioniere hier jedoch nicht. Man könne nicht im Stile Benjamins durch das Moskau des Jahres 1937 flanieren: "Die Figur des Flaneurs ist auf diesen monumentalen Plätzen nicht nur verdächtig, sondern ein lebensgefährlicher Anachronismus. Marschkolonnen, Paraden, Sportsleute und ihr Rhythmus sind hier eher angemessen." Zehn Jahre zuvor war Benjamin selbst ein paar Monate in Moskau gewesen und hatte seine Stadtbeobachtungen in seinem "Moskauer Tagebuch" aufgeschrieben. Doch dies war noch eine andere Epoche. 1937 ist die gewaltsame Vernichtung des alten Moskaus und die Errichtung der stalinistischen Metropole in vollem Gange.

Moskau 1937 ist für Schlögel in den Worten des großen russischen Gelehrten Michail Bachtin ein "Chronotop": eine Einheit von Ort und Zeit, ein Moment, in dem eine geschichtliche Konstellation zum Symbol wird. Aus dem ZK-Plenum heraus werden Ende Februar die Altbolschewiken Nikolai Bucharin und Alexei Rykow verhaftet. Der "Orkan der Gewalt" fegt über die Stadt, während überall das Neue beschworen wird und entsteht: die triumphalistische Metro, der Wolga-Moskwa-Kanal und die Fundamente des gigantischen, auf 420 Meter konzipierten "Palasts der Sowjets", der jedoch nie vollendet wird. Moskau ist eine Doppelstadt; monumentale Bauten stehen neben den Baracken, die 35 Prozent aller zwischen 1935 und 1937 gebauten Wohnräume ausmachen. Schlögels Panorama entwirft neben der Topografie der Macht und der Angst auch die des kleinen Glücks. "Zu den schockierendsten und zugleich wichtigsten Erfahrungen bei diesem Sich-hinein-Arbeiten in eine uns, den Nachgeborenen, fremde Zeit gehört die von der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit". Terror und Normalität, Todesurteile und Klavierkonzert, Kreuzworträtsel und Schauprozesse finden sich im Stakkato der Tageszeitungen. Zugleich will Schlögel das "Schwierigste, ja fast Unmögliche": diese Aporien aushalten und den Toten, die verstummt sind, eine Stimme leihen. Sein Essay beweist schon einmal, dass die Vergegenwärtigung dieser im Westen bis heute kaum begriffenen, immer noch bequem verdrängten Geschichte gelingen kann: Schlögel vermag das ganze Moskau 1937 zu beschreiben.

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