Machtpoker in NRW: Warten auf Krafts Fehler
Nach dem Vorbild Hessen können nur Neuwahlen Jürgen Rüttgers retten. Jedenfalls wenn weder eine rot-rot-grüne Landesregierung noch eine große Koalition zustande kommt.
Nordrhein-Westfalens amtierender Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat plötzlich ganz viel Zeit. Der Christdemokrat, dessen Partei bei der Landtagswahl um über zehn auf 34,6 Prozent abstürzte, isst in der Landtagskantine stundenlang zu Mittag - und nimmt ansonsten eher abseitige Termine wahr: In dieser Woche steht etwa die Eröffnung einer Kunstausstellung in Dortmund und ein Grußwort auf der Welt-Wasserstoff-Konferenz in Essen auf dem Programm.
Politik macht in NRW derzeit die Sozialdemokratin Hannelore Kraft. Nach der Weigerung der FDP, mit Kraft und den Grünen über eine Regierungsbeteiligung auch nur zu reden, wird Rot-Grün am Donnerstag oder Freitag erste Sondierungsgespräche mit der Linkspartei führen. Zwar wird in Düsseldorf bereits über mögliche Abweichler in Krafts SPD-Fraktion spekuliert, die ein Bündnis mit der Linkspartei torpedieren könnten. Wahrscheinlich aber ist das nicht: Rot-rot-grün stellt im neuen Landtag elf Sitze mehr als zur absoluten Mehrheit nötig - und ist Krafts einzige Chance, Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Bundeslands zu werden.
Denn Rüttgers' CDU, die von den 13,3 Millionen Wahlberechtigten mit einer hauchdünnen Mehrheit von 6.200 Stimmen ausgestattet wurde, will in einer Großen Koalition den Regierungschef stellen. "Es gelten die demokratischen Grundsätze", stellte Rüttgers schon am Tag eins nach den Wahlen klar.
Noch werben Christdemokraten wie Sozialminister Karl-Josef Laumann und Integrationsminister Armin Laschet deshalb für eine Große Koalition unter Rüttgers' Führung - dabei werden die beiden zusammen mit CDU-Generalsekretär Andreas Krautscheid längst als mögliche Nachfolgekandidaten von Rüttgers gehandelt: Laumann repräsentiert als Bundesvorsitzender der CDU-Sozialausschüsse den Arbeitnehmerflügel der Partei, Krautscheid und Laschet gelten als Anhänger der schwarz-grünen "Pizza Connection".
Sollten die rot-rot-grünen Verhandlungen scheitern, sollte Kraft trotz ihres selbst gestellten "Führungsanspruchs" doch eine große Koalition anstreben, könnte der amtierende Ministerpräsident der SPD geopfert werden - und Rüttgers weiß das: "Über Personen spricht man bei solchen Verhandlungen zuletzt", sagt er. In NRW wird intensiv beobachtet, dass Kanzlerin Angela Merkel bei der Verleihung des Aachener Karlspreises lange mit Minister Laschet, kaum aber mit Ministerpräsident Rüttgers redete - schließlich könnte Merkel die Altlast Rüttgers übernehmen müssen.
Denn in der Landeshauptstadt wird längst über Rüttgers' möglichen Einsatz in Berlin geredet: Der Ministerpräsident könnte Bundesinnenminister werden, wenn Amtsinhaber Thomas de Maizière den kranken Finanzminister Wolfgang Schäuble ablöste - noch aber dementiert Rüttgers' Staatskanzlei heftig. Denn der Chef hat noch eine Chance: Sollte Kraft auf ihrem "Führungsanspruch" bestehen, wären wie in Hessen Neuwahlen fällig. Und da regiert trotz nach Andrea Ypsilantis rot-rot-grünen Koalitionsdebakel weiter Rüttgers' Parteifreund Roland Koch.
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