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„MS Wissenschaft“ auf Deutschland-TourEine Rolltreppe zum Mond?

Partizipation steht im Mittelpunkt des Wissenschaftsjahrs 2022. Rund 14.000 Fragen an die Wissenschaft zeigen das zivilgesellschaftliche Interesse.

Informationen zu einigen aktuellen Forschungsprojekten gibt es auf der „MS Wissenschaft“ Foto: Ilja C. Hendel/Wissenschaft im Dialog

Berlin taz | „Wie können wir es schaffen, Gehirnkrankheiten wie Multiple Sklerose zu heilen?“ Aber auch: „Warum gibt es keine Rolltreppe zum Mond?“ Zwei Fragen von insgesamt über 14.000, die Bürger im Rahmen des „Wissenschaftsjahrs 2022 – Nachgefragt!“ an die deutsche Forschung gestellt haben. Jetzt brüten die Ini­tia­to­ren der Aktion „Meine Frage für die Wissenschaft“ im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) nicht nur über verständlichen Antworten. Sondern gefiltert wird auch, ob das zivilgesellschaftliche Interesse zu neuen Forschungsprojekten und Wissenschaftsrichtungen führen kann.

„Wir erhoffen uns davon Impulse für die Wissenschafts- und Innovationspolitik“, erklärte BMBF-Staatssekretärin Judith Pirscher in dieser Woche beim Start des Schiffs „MS Wissenschaft“ in Berlin, einer schwimmenden Forschungsausstellung, die in den nächsten Monaten 30 Städte in Deutschland ansteuert.

Erstmals steht in dem seit über 20 Jahren vom Ministerium veranstalteten Wissenschaftsjahr kein einzelnes Fachthema im Mittelpunkt (im Vorjahr Bioökonomie), sondern der Austausch der Wissenschaft mit der Gesellschaft und deren aktive Beteiligung, etwa in Projekten der Bürgerforschung (Citizen-Science). Indem mehr „Andockpunkte für die Bürger“ geschaffen werden, könnten nach Aussagen Pirschers „die Relevanz der Forschungsprojekte verstärkt und der Transfer beschleunigt werden“.

Weniger Belehrung, mehr Partizipation

Der ursprüngliche Ansatz der Wissenschaftskommunikation, nämlich Bildung und Belehrung, ist passé. Politik und Stiftungen, Vereine und Initiativen fördern Forschungsprogramme mit partizipativen Schwerpunkten – etwa in „Reallaboren“, bei denen wissenschaftliche Untersuchungen in städtischen Quartieren mit Beteiligung der Anwohner stattfinden. Andere Beteiligungsformate sind Diskussionen und Debattenforen, etwa der Bürgerrat Forschung, den das BMBF ebenfalls organisiert und der noch in diesem Monat seine Empfehlungen vorstellen soll.

Wir müssen stärker darauf achten, dass das Vertrauen in die Wissenschaft erhalten bleibt

Katja Becker, DFG-Präsidentin

Ein Treiber für mehr Partizipation ist die zunehmende Verbreitung der Wissenschaft und der aus ihr hervorgehenden Technik in alle Ecken der Gesellschaft. Bestes Beispiel ist die Digitalisierung, die in immer mehr Lebensbereiche vordringt. Paradoxerweise helfen digitale Medien aber auch dabei, dass sich Falschinformationen und Misstrauen gegenüber der Wissenschaft rasend schnell verbreiten können. „Wir müssen stärker darauf achten, dass das Vertrauen in die Wissenschaft erhalten bleibt“, betonte die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Katja Becker, beim Start der schwimmenden Ausstellung.

In den 32 Exponaten unter Deck stellen Hochschulen und Forschungsinstitute nicht nur Ergebnisse dar, sondern erklären die Methoden und Prozesse, wie sie gewonnen werden. „Die Besucher können hier hautnah erfahren, wie Forschung funktioniert“, sagte die DFG-Chefin. Auch in ihrer eigenen Organisation, die vor allem Projekte der Grundlagenforschung in Hochschulen fördert, ist die gesellschaftliche Partizipation auf dem Vormarsch. Wie Becker mitteilte, ist es inzwischen möglich, bei der DFG Mittel zu beantragen, um Laien an der Forschung zu beteiligen.

Kleinbauern in Afrika

Wie dies nicht nur in Deutschland, sondern auch auf fernen Kontinenten praktiziert werden kann, untersucht der Sonderforschungsbereich Future Rural Africa der Universitäten Bonn und Köln. Klimawandel, Verstädterung und Digitalisierung verändern die Lebensbedingungen der Kleinbauern in Afrika. Dabei sind die Zukunftsoptionen offen und gestaltbar.

„Die einen wünschen sich zum Beispiel eine intensivere Landwirtschaft, den Ausbau von Straßen und bessere Einkommensmöglichkeiten für Frauen“, erläutert Projektleiter Detlef Müller-Mahn, Professor für Humangeografie an der Uni Bonn.

Andere dagegen wollen mehr Naturschutzgebiete, gute Energieversorgung und neue Bewässerungsanlagen. In den afrikanischen Ländern Namibia, Tansania und Kenia führen die deutschen Wissenschaftler Befragungen durch, in welcher Richtung die Bevölkerung ihre Zukunft wünscht. Kombiniert mit empirischen Daten zur Klima- und Bevölkerungsentwicklung soll ermittelt werden, welcher Zukunftspfad der beste ist und wie die betroffenen Bauern an der Gestaltung mitwirken können.

Auf dem Ausstellungsschiff können sich die Besucher virtuell in die afrikanische Entscheidungslage hineinversetzen und auch ihr Votum abgeben.

Andere Exponate erklären die Entstehung von Vulkanen oder den Ursprung des Universums. Unter der Überschrift „Das Mikroskop der Superlative“ beschreibt eine Gruppe der Arabisch-Deutschen Jungen Akademie der Wissenschaften (AGYA), die ihren Sitz in Berlin und Kairo hat, was mit einem Teilchenbeschleuniger erforscht werden kann. Den städtischen Luftverkehr der Zukunft mit Flugtaxis und Passagierdrohnen führen Wissenschaftler des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation vor Augen.

Die Partizipation der Zivilgesellschaft an der Forschung und an der Wissenschaftspolitik habe aber auch noch eine ordentliche Wegstrecke vor sich, bis ein befriedigender Zustand erreicht ist, meint dagegen Ansgar Klein, der Geschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE).

Klein war in der vorletzten Legislaturperiode Repräsentant der Zivilgesellschaft im Hightech-Forum der Bundesregierung und konnte dort Erfahrungen sammeln, wie mit Vorschlägen aus dem gesellschaftlichen Raum umgegangen wird. Danach sei es so gewesen, erklärte Klein ­gegenüber der taz, „dass partizipativ und in gemeinsamen Beratungen mit Akteuren der Zivilgesellschaft erstellte Handlungsempfehlungen oftmals nach Belieben in den Schubladen der Bürokratie verschwanden und eine Nutzung durch die Politik ausblieb“.

Bürgerbeteiligung von oben

Die Top-down-Methode der bestellten Bürgerbeteiligung hat für den BBE-Sprecher wenig Wert, weil hier häufig eine Organisation gegen die andere ausgespielt werde. „Anstelle einer solchen Umgangsweise muss das Prinzip einer zivilgesellschaftlichen Selbstvertretung in Beratungsforen der öffentlichen Hand und Wissenschaft gehören“, fordert Klein. Nötig seien auch „Governance-Regeln“, in denen der Umgang mit partizipativ erstellten Ergebnissen klar definiert werde.

Ergänzend zur Verbesserung der Beteiligung an Einzelprojekten hält der Experte für Engagement auch grundsätzliche Neuerungen für ­nötig. „Die Zivilgesellschaft benötigt eine gemeinsame Plattform für Forschungs- und Bildungspolitik, die zugleich auch eine Clearingstelle für zivilgesellschaftliche Selbstvertretungen sein könnte“, findet Klein. „Eine solche Plattform sollte das BMBF strukturell fördern.“

Die frühere Plattform For­schungswende, die von Naturschutzorganisationen getragen wurde, hat eine solche Förderung trotz mehrfacher Anläufe nie erreichen können. Vielleicht ermöglicht die Ampel­koalition bessere Realisierungs­bedingungen.„Kann eine solche Plattform für bürgerschaftliches Wis­sen­schafts­engagement in Deutschland Realität werden?“, wäre eine gute Frage an das Wissenschaftsjahr. Sie kommt noch auf den Berg der 14.000.

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