MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON KOLJA MENSING: Doppelgänger
James Lasdun: „Die Jagd auf das Einhorn“. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Hanser, München 2002, 212 S., 17,90 €
Lawrence Miller ist Dozent an einem kleinen College im Norden der Stadt New York. Es sind die Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts, und wie es der akademische Zeitgeist erfordert, wird Miller Mitglied des universitären „Ausschusses für Fragen sexueller Belästigung“: „Letztlich ausschlaggebend war dann die Tatsache, dass ich als Dozent für Geschlechterforschung … die ethische Verpflichtung hatte, meine intellektuellen Grundsätze auch auf den Bereich realer menschlicher Beziehungen zu übertragen.“
James Lasdun erzählt in seinem Romandebüt „Das Einhorn“, wie die politisch korrekte Welt, in der sein Erzähler Miller sich eingerichtet hat, in Unordnung gerät. Zwischen den Postulaten der Dekonstruktion, der Gender Studies und der freiwilligen akademischen Selbstkontrolle macht Lasdun sich auf die Suche nach dem Unheimlichen. Der in England geborene und in Amerika lebende Schriftsteller greift dabei tief in die Trickkiste der Romantik, derjenigen literarischen Epoche also, in der die Zweifel gegenüber dem Projekt der (ersten) Aufklärung ihren Niederschlag in kunstvollen Märchen, Traumerzählungen und Schauerromanen fanden: Zunächst ist es nur das Lesezeichen in einem Buch, das über Nacht wie von selbst zwischen zwei andere Seiten gewandert ist, dann verschwinden Dinge aus Millers Büro, und schließlich geistert der ehemalige Frauenheld und Lyriker Bogomil Trumilcik wie ein Doppelgänger durch Millers Leben. Das unterdrückte Begehren bricht sich seine Bahn.
Es ist durchaus ehrenwert, dass Lasdun nicht eine weitere Political-Correctness-Satire geschrieben hat, doch der reflektorische Ernst, mit dem seine Figur sich im diskursiven Netz verfängt, ist ein wenig ermüdend: Für eine Tragödie – und nichts anderes will Lasdun erzählen – reicht die Fallhöhe nicht.
Der Abschied vom Subjekt, der in den Neunzigerjahren zum Common Sense wurde, birgt sicherlich nicht nur komisches Potenzial. Der Schmerz, der damit einhergeht, ist jedoch im Moment wohl nur im Slapstick-Format zu haben. Als Miller auf der Suche nach seinem Doppelgänger zuletzt Frauenkleider anlegt, fühlt er sich in seiner neuen Rolle zunächst recht wohl – bis ihm eine Soul Sister in den Schritt greift und kräftig zudrückt.
Korrekturen
Jonathan Culler: „Literaturtheorie. Eine kurze Einführung“. Aus dem Amerikanischen von Andreas Mahler. Reclam, Stuttgart, 2002, 196 S., 5,10 €
In seinem Familienroman „Die Korrekturen“ hat Jonathan Franzen auch die Theoriegläubigkeit der amerikanischen Akademiker gegeißelt. Eine seiner Figuren ist der junge Literaturwissenschaftler Chip, der seine Karriere zerstört, indem er mit einer Studentin schläft. Franzen lässt Chip in der darauf folgenden Zeit der Arbeitslosigkeit mit sicherem Blick für Ironie zunächst einmal seine theoretische Handbibliothek verkaufen: zunächst die Marxisten, dann Band für Band „seine Feministen, seine Formalisten, Strukturalisten, seine Poststrukturalisten, seine Freudianer und seine Schwulen“.
Über den von Franzen hier karikierten Ausverkauf der postmodernen Klassiker kann man leicht vergessen, dass die Umwandlung von „Theorie“ in den USA zur akademischen Gebrauchsware durchaus auch ihre Vorzüge hat. Zum Beispiel sind amerikanische Einführungen in theoretische Komplexe oft um vieles einfacher geschrieben als ihre (wenigen) Entsprechungen hierzulande. Jonathan Culler, der an der Cornell University in New York lehrt, hat vor einigen Jahren der Literaturtheorie eine „very short introduction“ geschrieben, die nun auch (preiswert und handlich!) auf Deutsch erschienen ist. Culler vermeidet den schematischen Ansatz. Anstatt sich nacheinander an den unterschiedlichen Schulen abzuarbeiten, geht er zentralen Problemen nach: Ausgehend von der elementaren Frage „Was ist Literatur und ist sie wichtig?“ schreibt Culler in einem eher essayistischen Tonfall über Sprache und Bedeutung, Erzählstrategien und Identifikationsakte und führt dabei nebenbei wichtige Theoretiker der letzten Jahrzehnte vor. Darunter ist auch Mary Louise Pratt, die in den Siebzigerjahren den schönen Begriff des „hochgradig geschützten Kooperationsprinzips“ eingeführt hat. Damit bezeichnete sie die Tatsache, dass in vielen Kommunikationssituationen (wie dem Lesen von Literatur) die grundlegende Bereitschaft der Teilnehmer vorhanden ist, in allem, was in diesem Zusammenhang gesagt oder geschrieben wird, Bedeutung zu erkennen. Das Schöne ist, dass Culler nicht auf dieses Kooperationsprinzip setzt, das einem Buch, auf dem „Literaturtheorie“ und „Einführung“ steht, einen gewissen Vertrauensvorschuss ermöglicht. Er bemüht sich so, dass man hochgradig gerne kooperiert.
Hetensaufen
Peter Rehberg: „Play. Geschichten aus New York“. MännerschwarmSkript, Hamburg 2002, 118 S., 16,50 €
Über den Schriftsteller Peter Rehberg ist nur wenig zu erfahren – außer dass er 1966 in Hamburg geboren wurde und seinen derzeitigen Arbeitsplatz der Ausdifferenzierung der geisteswissenschaftlichen Produktpalette verdankt: Er unterrichtet Queer Studies an einer amerikanischen Universität. Während Peter Rehberg in seinem eigentlichen Berufsleben vermutlich damit beschäftigt ist, mit wissenschaftlicher Akribie die Wirklichkeiten jenseits der normativen Vorgaben der Heterosexualität zu untersuchen, lässt er es in seinem ersten Roman „Play“ eher locker angehen: „Problem ist, dass Heten bei allem Wortmüll dennoch cooler sind als Homos. Warum? Weil sie echt gerne über Sex reden und das andauernd dürfen. Auch wenns falscher Sex ist, ist das cool. Heten habens leichter, cool zu sein, das ist das Problem.“
Peter Rehbergs Erzähler verabschiedet sich zu Beginn des Romans aus Berlin, wo Ende der Neunziger nur noch „schlecht gekleidete Vorstadthomos die Sau rauslassen“, und fliegt nach New York. In der fremden Umgebung entdeckt er langsam wieder die Vorzüge der schwulen Subkultur und dann auch noch der Liebe. Pornos kaufen macht in den USA mehr Spaß, weil sie in so schöne braune Papiertüten eingepackt werden, und die Männer werden vom Erzähler wie touristische Sehenswürdigkeiten bestaunt: „Alex hat den schönsten Oberkörper, den ich in meinem Leben gesehen habe.“
„Play“ ist tatsächlich so etwas wie das literarische Pendant zu den Forschungsstrategien der Queer Studies: ein Roman, dessen Erzähler eigentlich nichts anderes macht, als die vermeintlichen Vorgaben der Gesellschaft, ihrer Subkulturen und individuellen Übereinkünfte in Frage zu stellen. Nur dass eine Romanfigur im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Hypothese damit natürlich glamouröser scheitern darf. „Hetensaufen“ wird zwar nicht sein neues Hobby, aber als der Erzähler zuletzt den Mann seines Lebens findet, hat er sich sogar schon fast wieder mit dem arrangiert, was seine Freunde in Berlin peinlicherweise immer noch für camp halten: „Ich bin ja verliebt, ab jetzt. Es tut ja weh … Das klingt jetzt blöderweise fast wie der Text vom deutschen Grand-Prix-Beitrag dieses Jahr.“
Bienenschwärme
Barbara Kirchner/Dietmar Dath: „Schwester Mitternacht“. Verbrecher Verlag, Berlin 2002, 340 S., 16 €
Frank hätte das Telefon nicht abnehmen sollen. Christine von der Zeitung ist dran, und weil Frank nicht nein sagen kann, hat er einen Auftrag. Er soll mit seiner Kollegin einer Jahrhundertstory nachjagen: Angeblich hält sich Johannes Evangelis in der Stadt auf, ein geheimnisvoller Psychiatriepatient, in dessen Gegenwart Frauen sich umgehend die Kleider vom Leib reißen und nach körperlicher Liebe verlangen.
Dietmar Dath und Barbara Kirchner – zwei Journalisten, beide Anfang 30 – haben mit „Schwester Mitternacht“ einen Roman geschrieben, der irgendwo zwischen Pornografie und Science-Fiction, theoretischem Pamphlet und Paranoia einzuordnen ist. Er spielt in der näheren Zukunft, gerade ist eine Droge namens MTS auf den Markt gekommen: „Empathie-Effekte, Gemeinschaftsgefühl, dagegen ist E und der ganze andere Raver-Drogen-Technoscheiß Lakritze.“ Frank ist der Substanz bereits verfallen, und im Laufe seiner Recherchen stößt er auf eine Gruppe von Verschwörern, die mittels MTS und Johannes Evangelis die Kontrolle über die Menschheit erlangen wollen.
Entlang dieser etwas verworrenen, aber sauber gearbeiteten Trash-Geschichte erzählt „Schwester Mitternacht“ jede Menge true fiction. Dath und Kirchner – er schreibt schlaue Texte für die FAZ, sie für die FR – haben ihre Verschwörungsgeschichte auf einer Theorie Richard Dawkins aus den Siebzigern aufgebaut, die sich in letzter Zeit größerer Beliebtheit erfreut.
Dawkins versuchte mit dem „Mem“ einen kulturellen Gegenbegriff zum Gen zu finden, um kulturell mächtige Ideen wie religiöse Vorstellungen oder ideologische Überzeugungen in ihrer kleinsten Einheit beschreiben zu können. „Schwester Mitternacht“ erfindet nun ein Szenario, in dem einige verrückte Wissenschaftler mittels MTS die Produktion und Weitergabe von Memen kontrollieren wollen, um so die Menschheit zu einer Art Supercomputer zu verschalten. „Es ist entscheidend, dass man weiß, was die wissen, deren Wissen einem selber wieder anderes Wissen ermöglicht oder verschließt“, erklärt der Oberbösewicht: „Wissen Sie, was ein zellulärer Automat ist?“
Wissen Sie’s? – Nach der Lektüre von „Schwester Mitternacht“ (und diversen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln von Dath, Kirchner oder Dath/Kirchner) darf man die Frage zögerlich bejahen und hat auch den Mathematiker Stephen Wolfram besser kennen gelernt. Vor allem aber ist man für einen Moment genau wie eine der Romanfiguren im Anschluss an eine heftige S/M-Affäre mit einer 34-jährigen Poststrukturalistin vollkommen davon überzeugt, dass im Gegensatz zu Wolframs Überlegungen die ganzen sexy Theorien des 20. Jahrhunderts von der Psychoanalyse bis zum Dekonstruktivismus nicht für die Suppe taugen: „Lauter Bienenschwärme stachelbewehrter Furzideen.“
Roboterträume
Geneviève Castrée: „Die Fabrik“. Reprodukt, Berlin 2002, 38 S., 9 €
Kleine dosenartige Roboter sitzen an einem Fließband, greifen sich dunkle Vögel wie schwarze Gedankenfetzen aus der Luft und verschlingen sie. In dieser Fabrik entstehen Wahnideen und Albträume: Aus den blechernen Köpfen der Roboter, deren Räderwerk sie mit bedrohlichen Flüssigkeiten schmieren, wachsen dunkle Wälder, graue Flüsse und traurige Menschen mit Wollmützen und viel zu großen Unterhosen.
Die junge kanadische Zeichnerin und Autorin Geneviève Castrée lässt in ihrem Comic „Die Fabrik“ eine scheinbar endlose schwarz-weiße Bilderfolge entstehen. Wie ein Möbiusband dreht sie sich einmal um sich selbst, um dann in zwei miteinander verhakte Ringe zu zerfallen: die Geschichte eines Mädchens und die Geschichte eines Roboters, die beide zu keinem Ende finden, sondern mit jedem neuen Bild immer komplexere Muster nach sich ziehen – wie in den zellulären Automaten des Mathematikers Stephen Wolfram. Aber Theorie, und sei sie noch so aktuell, hilft da gar nicht: „Die Fabrik“ macht Angst.
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