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Lyrik von Silke ScheuermannWohldotierte Poetik der Weltferne

Silke Scheuermann veröffentlicht nach einem knappen Jahrzehnt mit „Zweites Buch der Unruhe“ einen neuen Lyrikband.

„In meinen Erinnerungen ist immer Winter. Sie sagten, / eine Märchengestalt hätte das Dorf erträumt.“ Foto: Robert B. Fishman/imago

Als der gutmütige, aber gestresste Buchhalter Manny in der Serie „Black Books“ die seinerzeit populäre Achtsamkeitsfibel „The Little Book of Calm“ verschluckt, erstickt er wundersamerweise nicht daran, sondern findet zu einer nervtötenden Gelassenheit. Erst als er einer Hooligan-Truppe seine Weisheit zuteilwerden lässt und daraufhin verprügelt wird, verpufft sein Zwang, Weisheitssprüche abzusondern.

Etwa zur Zeit der Erstausstrahlung der Trilogie (2000) um die drei Geeks Manny Bian­co, Fran Katzenjammer und Bernard Black erwarb Silke Scheuermann erste Meriten als Lyrikerin; wurde bald zum Shooting Star der Lyrikszene und zur gefeierten Romanautorin und Essayistin. Seit einem knappen Jahrzehnt hat Scheuermann keinen Gedichtband mehr vorgelegt. Allenfalls einzelne Motive wie Tier­ethik, KI-Schelte und Konsumkritik ähneln in ihrem neuen Lyrikband entfernt den derzeit dominanten Diskurspositionen; mit dem Unterschied, dass eine Reflexion auf Politiken und Räume des Sprechens in keinem Gedicht ihres sechsten Bandes zu finden ist.

Diskurse rund um Identitäten (Queerness, Klassismus) auf den simplen Dualismus Mensch/Maschine herunterzubrechen, bedeutet in Zeiten gesellschaftlicher Backlashs: eine angejahrte Lyrikbeflissenheit zu promoten. Das ist natürlich nicht verwerflich, aber es ist bloß Werkpolitik. Nach der Pause muss Kontinuität her!

Die Sprache der inneren Wirklichkeit

Eine ganze Reihe ästhetischer Parameter haben sich in den letzten Jahren indes verschoben, beispielsweise muss sich Scheuermanns „Wir“ nach der eigenen Sprechposition fragen lassen: Wird hier nicht ein disperses Publikum mit einer eurozentrischen Gemeinschaft identifiziert? Eine Antwort darauf könnten Scheuermanns Frankfurter Poetikvorlesungen von 2018 bieten: „Mir gefällt in diesem Zusammenhang die auf Paul Valéry zurückgehende Idee, dass Poesie eine Sprache innerhalb der Sprache sei, aber eine mit größeren Freiheiten, weil sie sich nicht auf die äußere, sondern eine innere Wirklichkeit beziehe. Diese innere Wirklichkeit erlebt jeder Autor anders, und er muss dafür eine neue Sprache (…) und vor allem neue Bilder finden – solche, die möglichst unvergleichlich sind, aber doch nicht unverständlich“.

Das Buch

Silke Scheuermann: „Zweites Buch der Unruhe. Gedichte“. Frankfurt am Main, Schöffling 2025, 96 Seiten, 22 Euro

Hermetik und Kommensurabilität gehen eine paradoxe Verbindung ein; trotzdem kommt eine solche wohldotierte Poetik der Weltferne zu erstaunlichen Findungen: „Das Dorf“, „Die Lampe“ und „Die Möwe“, die sich einer Clip-Ästhetik annähern, die an Rammstein erinnert, kriegen einen, weil es sich um emphatische Nachschriften zur Schwarzen Romantik handelt: „In meinen Erinnerungen ist immer Winter. Sie sagten, / eine Märchengestalt hätte das Dorf erträumt. (…) Ich war in hellblauen Briefen unterwegs zu dir, / aber die Schneekönigin hatte dich lange vor mir erwischt. (…) Ich, die ich Draußen / bevorzuge wie alle meiner Art, lasse mich auf einer Stuhlkante nieder. Sieh mal, eine Möwe, sagt jemand“.

Dringlich wird es auch, wenn Parallelen zu Brechts „Buckower Elegien“ gezogen werden, oder wenn Fernando Pessoa, der zum Klischee geronnene Sonderling, als virtuell reisende Plaudertasche imaginiert wird: „Pessoa, der seine eigene These bestätigt, / Existieren sei Reisen genug, der / quasitelepathisch seinen Möglichkeitssinn austestet, / zuerst die Freiheitsstatue, / und zehn Sekunden später direkt / vor den Taj Mahal teleportiert wird“.

Rilke statt Virtual Reality

Leider desinteressiert an der popkulturellen Virulenz von Virtual Reality – aufwühlend in Szene gesetzt in dystopischen Serien wie „Real Humans“ (2012–2014) –, dockt Scheuermanns „Liebesgedicht an alle Liebesgedichte“ direkt bei einer bürgerlichen Rilkelektüre an, inklusive einer behaupteten Feier des Numinosen bei ästhetizistisch verbrämter Verachtung für alles Maschinelle.

Der Umgang mit KI kann aber doch auch ganz unverhoffte Perlen hervorbringen! Hannes Bajohrs Digitalpoesie zeigt das ein ums andere Mal. Eine derart neckisch erzeugte Unruhe tut niemandem weh. Gedichte müssen indes kein Diskurs-Pogo sein. Für Silke Scheuermann sind sie ein Tool fortgeschrittener Kontemplation. Es ist auch keine Kleinigkeit, dass „Zweites Buch der Unruhe“ gegen die toxische Positivität einer Gesellschaft anschreibt, deren bürgerliche Mitte zukünftig wohl „mehr Milei und Musk wagen“ wird.

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