: Lust, Performance und Labern auf Facebook
Richard Schuberth hat einen entlarvenden und anrührenden Roman über prekarisierte linke Kulturarbeiter in den sozialen Medien geschrieben: „Der Paketzusteller“
Von Benjamin Moldenhauer
Gerhild steuert auf die Fünfzig zu, wird sie aber wohl nicht mehr erreichen, weil Krebs. Die Zeit, die ihr bleibt, verbringt Gerhild auf MDMA und Pilzen auf Facebook und macht ihre Kontrahentinnen und Kontrahenten (vornehmlich sind es Männer) verbal fertig. Dann tritt die Liebe in ihr Leben, und es entfaltet sich so etwas wie ein Krimiplot in Ansätzen. Aber vor allem geht es dem österreichischen Schriftsteller und Essayisten Richard Schuberth in seinem neuen Roman „Der Paketzusteller“ um die Beschreibung der Reste der Kulturlinken am auf Deutschland ohne Weiteres zu übertragenden Beispiel Österreich, also Wien.
Das Bild, das hier gezeichnet wird, ist nicht schön. Politische Machtlosigkeit, das Gefühl, nicht so erfolgreich geworden zu sein, wie man meint, es verdient zu haben, und jahrzehntelanges Trainieren von feuilletonistischen Diskursen ergeben ein Gemisch aus Souveränitätsperformance und Dauerironie, das sich hier in die Facebook-Threads im Jahr 2018 ergießt. Da war die Plattform schon fest in den Händen der über Vierzigjährigen. Anhand der Beschreibung dieser Mischung jedenfalls betreibt Schuberth – über weite Passagen mehr Essayist als Erzähler – eine sehr genaue und durchweg schaurige Sozialpsychologie.
Im ersten Romandrittel dominiert das Thesenhafte, einfach weil der für Schuberths Unternehmung nicht wirklich entscheidende Plotverlauf und die allerdings entscheidende Figurenzeichnung sich überwiegend in ihrer genüsslich hervorgekehrten Eitelkeit sehr komischen und schmerzhaften Facebook-Kommentarschlachten entfalten. Am schlimmsten sind die Gelehrten. „Es geht hier weder um das konservative Ansinnen der Rettung deutscher Zunge noch um ein xenophobes Säuberungsprogramm, noch um das nostalgische Beschwören eines idyllischen Status quo ante“, lässt Schuberth einen besonders peinlichen von Gerhilds Kontrahenten sagen. Und ihre Antworten – oder halt Repliken – sind dann wiederum sehr komisch.
Einer der vielen Befunde, die Gerhild und in diesem Fall vermutlich auch Richard Schuberth über die eigene Blase formuliert, ist dann nicht nur genau, wie viele der Diagnosen in diesem Roman, sondern auch endgültig (auch Autor und Rezensent posten textlastig, vorgeblich ohne Not, aber eifrig in den sozialen Medien): „Du bist alles, was du anderen unterstellst, bloß mit der blasierten Illusion, frei davon zu sein.“
Hin und wieder eingestreut zwischen die ganze so entfesselte wie notdürftig sublimierte Eitelkeit sind anrührende Sätze, die das ganze Diskurstheater kurz mal runterkochen. „Auch Gerhild wollte immer lieb gehabt werden, doch durfte sie es nie zeigen.“ Der Text erinnert einen in solchen Momenten daran, dass man es in diesem Roman nicht nur mit Social-Media-Avataren zu tun hat, sondern mit Figuren, die hinter oder unter den vor sich her getragenen Meinungen, Positionen und Behauptungen so etwas wie eine Psyche mitschleppen.
Gerhild ist klüger insofern, als sie genauso schrecklich ist, aber darum weiß. Wie überhaupt die männlichen Figuren in diesem Roman eine breite Bremsspur unangenehmer sind als die weiblichen. Ausnahmen bilden der schwule beste Freund Ferdi und der Titelheld, der Paketzusteller Haydar, der Gerhild ihre Amazon-Bestellungen an die Haustür bringt. Mit seinem zweiten Erscheinen kommt dann auch wieder so etwas wie Körper und Kommunikation in die Erzählung, die nicht über drei Metaebenen aufgespannt ist. Wobei auch die erste Sexszene zwischen Gerhild und Haydar wieder arg diskurslastig ausfällt. In ihrem Rahmen entfaltet sich ein dialektisch gebautes Referat über das Verhältnis von Lust und Performance bei Frauen wie bei Männern; während Haydar sich wirklich bemüht, bemerkt Gerhild, dass sie das vor ihrem Tod doch gerne noch ein paar Mal öfter hätte, wobei dem Leser sich ein Gedanke wie „Jetzt macht doch einfach mal und zerlabert nicht alles“ doch stark aufdrängt.
Von da an nimmt die Geschichte an Fahrt auf. Haydar verschwindet, Gerhild verdächtigt seinen Arbeitgeber, es steuert tatsächlich auf so etwas wie einen Showdown zu: „Der Paketzusteller“ setzt sich im Wesentlichen aus mikrosoziologischen Beobachtungen des Denkens, der Kapitalakkumulation, des Habitus und des unaufhörlichen Geredes einer prekarisierten Szene von sich als irgendwie progressiv verstehenden Kulturarbeitern und -arbeiterinnen zusammen. Gerhilds Erwerbs- und Künstlerinnenbiografie ist wirklich herzerweichend.
Richard Schuberth: „Der Paketzusteller“. Drava Verlag, Klagenfurt 2025, 300 Seiten, 24 Euro
Wenn Schuberths Beobachtungen treffen, tut es weh, immer dann gerade, wenn man sich mitgemeint fühlen darf. Eine Essaysammlung in Romanform, aber auch nicht nur. Sondern auch eine sehr, sehr lustige Komödie und Liebesgeschichte über einen Menschen, dem es im Sterben noch einmal punktuell gelingt, die eigenen Verhärtungen zu durchbrechen.
Und ein Weg zur Selbsterkenntnis und damit zur Besserung nicht zuletzt: Wenn man das von Schuberth entwickelte Gewirr aus Narzissmus, Performance- und Ironiezwang und Scheinsouveränität in seiner Wurstigkeit verinnerlicht hat, kann man sich nicht mehr in den sozialen Medien verbreitern, Twitter, Instagram, Facebook, egal. Zumindest nicht ohne sich bei jedem zweiten Satz, den man dort schreibt, ertappt zu fühlen.
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