Lübeck schließt eines der zwei Frauenhäuser: Schutz von Frauen auf der langen Bank
Eines von zwei Frauenhäusern in Lübeck wird von Schleswig-Holstein nicht weiter finanziert und nimmt niemanden mehr auf. Die Stadt könnte sechs Plätze retten
HAMBURG taz | Das Frauenhaus der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Lübeck muss dichtmachen, obwohl es dringend gebraucht wird: Im vergangenen Jahr suchten dort 221 Frauen und Kinder Schutz vor häuslicher Gewalt. Jetzt versuchen die beiden Lübecker Frauenhäuser mit unterschiedlichen Konzepten, wenigstens die sechs von der Stadt finanzierten Plätze des AWO-Hauses zu retten. Es ist aber nicht abzusehen, wann es zu einer Entscheidung über die Zukunft dieser Plätze kommt. "Wir wollen präzisere Angaben zum Konzept der AWO", sagt Sven Schindler (SPD), Senator für Wirtschaft und Soziales der Stadt Lübeck. "Jetzt müssen wir erst mal abwarten, was bei den Gesprächen nächste Woche rauskommt."
Das AWO-Frauenhaus muss schließen, weil die schwarz-gelbe Landesregierung Schleswig-Holsteins 2010 beschlossen hat, 563.000 Euro bei "Maßnahmen gegen häusliche Gewalt" einzusparen. Die Kürzung betrifft nicht nach der "Rasenmähermethode" alle Einrichtungen im Land mit kleinen Einsparungen, sondern zwei der 16 Frauenhäusern in Schleswig-Holstein sollen ganz geschlossen werden. Das sind die Häuser in Wedel mit 15 Plätzen (taz berichtete) und das AWO-Haus in Lübeck mit 42 Plätzen.
"Wir hatten im November 20 Anfragen von Frauen, die wir abweisen mussten", berichtet Renate Brinker vom AWO-Frauenhaus. Zurzeit hätten sie noch zwölf Frauen und Kinder im Haus und wüssten nicht, wo sie sie unterbringen sollen. "Sie sind sehr in Sorge."
1.611 Verfahren der Staatsanwaltschaft wegen "Gewalt in der Familie" gab es 2010 in Lübeck. Seit 2003 hat sich die Zahl der Verfahren damit fast verdoppelt.
303 Einsätze wegen häuslicher Gewalt hatte die Lübecker Polizei 2010.
234 Frauen und 246 Kindern boten die Lübecker Frauenhäuser 2010 Zuflucht.
Landesweit bleiben in Schleswig-Holstein 287 Frauenhausplätze übrig, wenn die Häuser in Wedel und Lübeck schließen. Damit kommt ein Platz auf 9.871 EinwohnerInnen. Bundesweit liegt diese Relation bei eins zu 12.291.
In Schleswig-Holstein zahlen die Gemeinden anteilig nach ihrer Größe einen Betrag für ihr Frauenhaus. Das Land gibt etwas hinzu. Das Finanzierungskonzept ist bundesweit einzigartig.
Die zweite Anlaufstelle in der Stadt, das Autonome Frauenhaus Lübeck mit 40 Plätzen, ist durch die schrittweise Leerung des AWO-Hauses völlig überlaufen und muss die Frauen in Einrichtungen nach Flensburg, Kiel, oder Dithmarschen schicken. Laut Mitarbeiterin Anke Kock musste das Autonome Frauenhaus Lübeck in den letzten zwei Monaten 44 Frauen und 52 Kinder abweisen, die von häuslicher Gewalt betroffen waren.
Das Frauenhaus Flensburg konnte bisher alle aus Lübeck kommenden Bedürftigen aufnehmen. "Trotzdem ist es unzumutbar, Frauen für eine sichere Unterkunft durch das ganze Land zu schicken", sagt die Mitarbeiterin der Einrichtung Susanne Steinhoff. "Schon allein weil ihre Kinder dann nicht in der Heimatstadt zur Schule gehen können."
Um die sechs mit insgesamt 63.000 Euro pro Jahr von der Stadt finanzierten Plätze zu erhalten, haben die beiden Lübecker Häuser unabhängig voneinander Lösungen entwickelt. Die Idee des AWO-Frauenhauses: Drei Wohnungen mit Plätzen für sechs Frauen und Kinder, inklusive sozialpädagogischer Betreuung.
Diese Struktur ist laut Renate Brinker besonders gut für Frauen geeignet, die den speziellen Belastungen in einem großen Frauenhaus nicht gewachsen sind, aber "ihren Alltag ohne institutionellen Rahmen bewältigen können". Eines der Ziele der Schutzwohnungen ist nach Brinker, "dass die Frauen wieder ein selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt führen können".
Den Ansatz "Schutzwohnungen" hält Anke Kock vom Autonomen Frauenhaus Lübeck für falsch. "Die Frauen brauchen Gesprächsmöglichkeiten, auch am Wochenende. Und wer schützt sie, wenn plötzlich ihr gewalttätiger Mann vor der Wohnungstür steht und sie dort allein ist?", kritisiert sie.
Das Autonome Frauenhaus wird sich mit einem eigenen Konzept um die sechs von der Stadt finanzierten Plätze bewerben. Es sieht vor, Büroräume aus dem Haus auszulagern und in Zimmer für Frauen und Kinder umzuwandeln. "Falls es 2012 nach der Landtagswahl einen Regierungswechsel gibt, wollen wir ein zweites Haus aufmachen", sagt Anke Kock. "Die Lübecker Plätze sollten komplett vom Land finanziert werden."
Für die unmittelbare Zukunft kann die Stadt Lübeck nicht sagen, wie es weitergehen soll. Obwohl der Prozess der Schließung bereits läuft und das Rettungskonzept der AWO für die sechs Plätze schon seit August 2011 vorliegt, gibt es noch keine Pläne zum weiteren Vorgehen. Ein neues Konzept könnte frühestens im März 2012 umgesetzt werden, denn es muss vorher von drei städtischen Gremien gebilligt werden.
Ob die 63.000 Euro pro Jahr überhaupt für die sechs Frauenhausplätze investiert werden, ist ebenfalls noch offen. "Fest steht nur, dass dieses Geld weiterhin für Frauenprojekte in Lübeck ausgegeben werden soll", sagt Senator Schindler.
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