„Lucona“ - ein österreichischer Krimi

Gestern begann in Wien der Strafprozeß wegen Versicherungsbetrugs und Sprengstoffverbrechens mit Todesfolge gegen den K.u.k.-Zuckerbäcker Proksch / Das 1977 verschwundene Frachtschiff wirft immer noch Rätsel auf / Die Spitze der österreichischen Sozialdemokratie ist in die Affäre verwickelt / Die Versicherung fordert jetzt Ersatz  ■  Von Michael Prager

Es gibt im Kriminalfall „Lucona“ einen einzigen wirklich zentralen Umstand, zu dem die Zeugenaussagen weitgehend ohne Widerspruch sind: die Frage, wo sich die einzelnen Besatzungsmitglieder zum - echten oder angeblichen Unglückszeitpunkt an Bord des Schiffes befanden. Lokalaugenschein also.

Kapitän Puister lag in seiner Kabine und schlief.

Der erste Maschinist, Borbely, befand sich in seiner Kabine, wo er - berichtet Steuermann van Beckum von seinen gelegentlichen Rundgängen während der Wache - eben von seiner Verlobten geweckt worden sein dürfte.

Der Koch de Brito war in der Kombüse. Zwei Matrosen, so van Beckum, befanden sich in ihrer Kabine auf der Backbordseite und schliefen, zwei weitere in ihrer Kabine unter der Brücke, mittschiffs; einer der Hilfsmaschinisten, Correira, will gerade bei ihnen gewesen sein und mit ihnen gesprochen haben, van Beckum erklärt dazu, ob's stimme, wisse er nicht: Correira habe hernach die verschiedensten Märchen erzählt, um sich interessant zu machen, etwa, er habe gesehen, daß einer der Matrosen bei der Explosion „auseinandergesprungen“ sei. Es sei auch nicht einsichtig, warum ihm die beiden Matrosen nicht an Deck gefolgt seien.

Fest steht, Correira war gerade nicht in seiner, sondern in einer fremden Kabine.

Der zweite Hilfsmaschinist, Da Cruz, befand sich im Maschinenraum.

An Deck selbst, und zwar auf der Brücke, hatten sich nur zwei Personen aufgehalten: Steuermann van Beckum im Kartenraum und die Frau von Kapitän Puister im Steuerhaus davor.

Gerade diese beiden, noch einmal sei es festgehalten, haben in all ihren Aussagen betont, niemals einen Explosionsknall vernommen zu haben; geschweige denn zwei.

Gerade ihre Aussagen über das zeitverzögerte Bersten der Fensterscheiben des Steuerhauses stehen der Theorie einer Sprengung des Schiffs diametral entgegen: der hätte in Sekundenbruchteilen eine Druckwelle folgen müssen.

Dafür wird eine einzige Aussage von Frau Puister, nämlich daß sie zuerst leicht nach hinten und dann mit großer Wucht nach vorne gestoßen worden sei, zum Ausgangspunkt komplizierter Computer-Simulationen über Schiffsschwingungen gemacht, bei denen es - sieht man sich die Schaubilder näher an - um ganze fünf Millimeter geht, um die „die Brücke nach vorne schwingt“, in einem Zeitraum von - man höre! - 0,1 Sekunden. Von der unausgesprochenen, nirgendwo erhärteten Annahme ausgehend, Frau Puisters „nach vorne“ und „nach hinten“ sei mit bug- und achterwärts am Schiff gleichzusetzen.

Daß der einzige zweite Zeuge auf der Brücke, van Beckum, diese Bewegung überhaupt nicht wahrnahm, wird vom Wiener Gerichtsgutachter Wimpissinger mit dem geradezu atemberaubend lapidaren Kommentar übergangen, daß sich van Beckum wohl gerade auf den Kartentisch gestützt haben werde.

Und die Einwände der Verteidigung, weder Frau Puister noch van Beckum noch der zur Brücke heraufgelaufene Kapitän hätten etwas von Atemschwierigkeiten bemerkt, obwohl sie nach eigenen Angaben ganz von Rauch umgeben waren, Sprenggase jedoch hochgiftig sind und das Atmen unmöglich machen, wird von den Untersuchungsbehörden in Wien nicht einmal ignoriert. Nicht, weil das sachlich falsch wäre, sondern weil's auf einem eigenen Sprenggutachten der Verteidigung beruht: einem Privatgutachten also.

Einen noch lockereren Umgang mit Theorien und Annahmen entgegen allen bekannten Fakten pflegt nur noch Proksch -Jäger Hans Pretterebner: Die Tatsache eines „gezielten Sprengstoffanschlags“ auf die „Lucona“ sei nur deshalb nicht schon bei der ersten Vernehmung der Zeugen in Rotterdam, also bereits im Februar 1977, ans Licht gekommen, weil „die Interessenlage aller Beteiligten absolut gleich war. Es gab in Holland niemanden, der sich von einer restlosen Aufklärung des Schiffsunterganges einen besonderen Nutzen versprach“.

Denn als Zeuge von Vorkommnissen dieser Art setzte man sich nur dann keiner Gefahr aus, beseitigt zu werden, wenn man möglichst wenig gesehen und gehört hat; Rechtsanwalt Baanders wiederum, der die Aussagen der Zeugen zu Protokoll nahm, habe schließlich die Interessen der Reederei zu vertreten gehabt, „und diese hatte naturgemäß nur ein einziges Ziel: von ihrer Kaskoversicherung so rasch wie möglich den Schaden für den Verlust des Schiffes ersetzt zu bekommen.“

In späteren Publikationen wird Pretterebner sogar suggerieren, wer der wahre Eigentümer der „Lucona“ zu diesem Zeitpunkt gewesen, in wessen Tasche die Versicherungssumme von 20 Millionen Schilling demnach geflossen sein könnte, die Spur führe nach Belgien und weiter nach Frankreich, wo man aber nicht mehr nachstoßen könne: der „polizeibekannte Ex-Advokat“, um den es dabei gehe, sei am 9.September 1987 bei einem „als Fahrerflucht getarnten Mordanschlag“ getötet worden, einer der vielen, vielen „mysteriösen Todesfälle“ in der Causa „Lucona“. Untertitel dieser Aufdecker-Folge im 'Kurier‘: „Mysteriöse Todesfälle behindern die Klärung des Falles“.

Nicht Pretterebner selbst: Über einen „Filipino“ namens Jimenez in Panama und eine Namensgleichheit in Manila geht's schließlich doch noch zu Imelda Marcos und Udo Proksch.

Tatsächlich, so Daimler-Verteidiger Professor Erich Samson in Kiel in seinem penibel dokumentierten und sorgfältigen Schriftsatz an die deutschen Untersuchungsbehörden, „sind die Zeugenaussagen, jedenfalls soweit sie bis 1985 gemacht wurden, in keiner Weise geeignet gewesen, den Eindruck von einer Sprengung hervorzurufen.

Es fällt auf, daß erst 1986, und zwar jeweils auf Betreiben von Rechtsanwalt Masser, die Zeugen begonnen haben, noch vor ihrer richterlichen Vernehmung, Erklärungen und Berichte zu produzieren, die die Schönheitsfehler ihrer früheren Aussagen auszubügeln versuchten.“

Das wichtigste Dokument in diesem Zusammenhang: Der Kapitäns-Report von der „Sapen I“, jenem türkischen Tanker, der in der Nacht des 24.Jänner 1977 die sechs Zeugen von der „Lucona“ aus dem Indischen Ozean gefischt und gerettet haben will, „Bundesländer„-Anwalt Werner Masser präsentiert ihn, noch mit eigenem Kommentar ausgeschmückt, im Jahre 1986 dem Landgericht Wien.

Auf den ersten Blick, so Samson, scheint dieser Kapitäns -Report eine ganze Reihe massivster Zweifelsfragen, wie sie bei Betrachtung und Analyse der bisherigen Zeugenaussagen aufbrechen, wieder zu beseitigen.

Zwei Umstände insbesondere sind es, die zuvor außerordentlichen Zweifel an der These von einer Sprengung der „Lucona“ hatten aufkommen lassen, wie der prominente deutsche Strafrechtler festhält:

-Keiner der Zeugen hat wirklich von einem Explosionsknall berichtet.

-Selbst angesichts des Versuchs, nunmehr zwei gelbe Stahlzylinder als Sprengstoffversteck anzusehen, blieb die Frage offen, wie denn eine gleichzeitige Zündung der beiden Sprengladungen stattgefunden haben soll.

Beide scheint der Bericht der beiden türkischen Kapitäne zu sanieren. Denn diese beschreiben - in wörtlicher Rede wiedergegeben - was ihnen „Lucona„-Kapitän Jacob Puister unmittelbar nach seiner Rettung auf der „Sapen I“ erzählt habe.

Der wesentliche Inhalt von Puisters Aussagen:

-er habe sich zum Unglückszeitpunkt selbst auf der Brücke befunden;

-er habe im Abstand von wenigen Sekunden zwei große Explosionen wahrgenommen.

Der Captain's Report

Nimmt man den Kapitäns-Report unbefangen zur Kenntnis, notiert Prof. Samson, „dann könnte man leicht zu der Annahme neigen, dieser Report beinhalte deswegen die Wahrheit, weil er gleich unmittelbar nach dem Untergang der „Lucona“ angefertigt wurde und auf Aussagen beruhen mußte, die die Überlebenden wenige Stunden nach dem Unglücksfall gegenüber den türkischen Offizieren gemacht hätten“.

Nichts wäre voreiliger. Da wäre einmal der Inhalt.

Im Kapitäns-Report findet sich folgende Beschreibung des Unglückshergangs auf der „Lucona“ durch ihren Skipper, Puister: „Im Augenblick der Explosion nahmen der Chef -Maschinist (Borbely, M.P.), seine Frau und einige Matrosen über den Luken ein Sonnenbad. Ich befand mich zu dem Zeitpunkt auf der Brücke. Zusammen mit einer fürchterlichen Explosion stieg aus Luke I eine 60 bis 70 Meter hohe weiße Rauchwolke auf, dann folgte eine zweite Explosion, und ich sah, wie Flammen aufstiegen. Auf einmal befand ich mich im Meer.“

Von diesen zentralen, die angebliche Explosion unmittelbar beschreibenden Sätzen, macht Prof. Samson die Staatsanwaltschaft in seinem Papier aufmerksam, ist jeder einzelne nachweislich unwahr.

Das beginnt mit den angeblichen Sonnenbad auf stählernen Ladeluken bei Außentemperaturen von weit über 35 Grad Celsius, was aber fast schon ohne Belang sei: Vielmehr widerspricht diese Darstellung sämtlichen Zeugenaussagen, die übereinstimmend festhalten, daß sich überhaupt nur zwei Personen an Deck befanden, der erste Offizier und die Gattin des Kapitäns, während sich die übrigen Besatzungsmitglieder in ihren Kabinen unterhalb der Brücke aufhielten, der Koch in der Kombüse war und einer der Maschinisten im Maschinenraum.

Auch der zweite Satz („Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt auf der Brücke“) ist unwahr. Kapitän Puister hatte immer ausgesagt, er habe gerade in seiner Kajüte geschlafen.

Der nächste Satz, so Samson weiter, es hätte nicht nur eine Explosion, sondern sogar eine zweite gegeben, ist zwar für die Behauptung, der Sprengstoff hätte sich in zwei getrennten Containern befunden, unverzichtbar, nichtsdestoweniger jedoch kraß unwahr. Was nicht nur daran liegt, daß überhaupt kein Augenzeuge von zwei Explosionen berichtet hat, sondern daß die beiden einzigen Zeugen, die den Vorgang hätten wahrnehmen können - van Beckum und Frau Puister - überhaupt jeglichen Knall bestreiten.

Und schließlich ist sogar der letzte Satz („Auf einmal befand ich mich im Meer“) unwahr. Puister hat immer berichtet, nicht etwa durch eine Druckwelle („auf einmal“) von Bord geschleudert worden zu sein, sondern daß er noch erhebliche Aktivitäten an Bord entfaltet habe, bis er sich dann unter großen Mühen aus dem untergehenden Schiff gerettet habe.

Soviel zu den inhaltlichen Aussagen des Kapitäns-Reports, zumindest soweit sie sich auf das unmittelbare angebliche Explosionsereignis beziehen.

Die Reise

Geht man davon aus, daß die „Lucona“ nicht durch eine Sprengstoffexplosion versenkt wurde, schreibt Samson, so bleiben, vor allem auch angesichts der höchst problematischen Zeugenaussagen, zwei theoretische Möglichkeiten.

-Zunächst sei denkbar, daß die „Lucona“ tatsächlich im Indischen Ozean gesunken sei, wenn auch nicht aufgrund einer im Schiff verborgenen Sprengladung, sondern aus anderen Ursachen, deren mehrere in Betracht kämen, etwa Auflaufen auf ein treibendes Wrack oder eine vertriebene Mine.

-Es gebe aber auch die - zunächst theoretische Möglichkeit, daß die Besatzungsmitglieder selbst mit dem Verschwinden der „Lucona“ zu tun hätten.

Letzteres, schreibt Samson weiter, dürfte freilich nur dann ernsthaft in Betracht kommen, wenn nachgewiesen werden kann, daß nicht erst im Verlauf des in Wien durchgeführten Ermittlungsverfahrens unrichtige Aussagen und Manipulationen an Beweismitteln stattfanden, sondern bereits während der Fahrt der „Lucona“. Solche Manipulationen sind tatsächlich erfolgt. Sie weisen alle auf Kapitän Puister und seinen Steuermann van Beckum als Urheber hin, und sie betreffen sämtliche für die Fahrt eines Frachtschiffes maßgeblichen Umstände: den Treibstoff- und Frischwasserverbrauch, die Durchschnittsgeschwindigkeit der Reise und das tatsächliche Gewicht der Ladung. Der vierte Punkt betrifft die angeblichen Lebensläufe und Qualifikationen der Schiffsoffiziere selbst.

Fest steht danach: Kapitän Puister muß nicht nur in Wien die Unwahrheit gesagt haben, er hat bereits während der Fahrt in einer ganzen Reihe von Dokumenten vorsätzlich unrichtige Angaben gemacht.

Es ist dieser letzte Teil der Samson-Arbeit, der die Glaubwürdigkeit der von der Staatsanwaltschaft Wien angeführten Belastungszeugen vollends erschüttert. Das meiste davon ist für die Öffentlichkeit völlig neu, in diesem nicht unspektakulären Kriminalfall, der immerhin jetzt schon tiefe und bleibende Spuren in der politischen Landschaft der Zweiten Republik hinterlassen hat.

Gekürzt aus 'Forvm‘ vom Dezember 1989; zu beziehen in: A -1070 Wien, Museumstraße 5