Lokomotive Karlshof: Die soziale Kettenreaktion
Sie bauen Kartoffeln an und verschenken sie. Sie haben kein karitatives Motiv. Sie wollen durch Aufbau einer nichtkapitalistischen Versorgung eine soziale Kettenreaktion auslösen. Ein Abstecher
"Warum Rosen besingen, Aristokrat! Besing die demokratische Kartoffel, die das Volk nährt!" Heinrich Heine
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Ein beliebter Che-Guevara-Spruch in der linken Szene war: Seid realistisch, fordert das Unmögliche!" Auf dem Karlshof wird das Unmögliche nicht nur gefordert, es wird von den Utopisten einer "nichtkommerziellen Landwirtschaft" (NKL), in die Praxis umgesetzt. Sie bauen Kartoffeln an und verschenken sie. Sie lehnen jede Bezahlung ab, ebenso Gutschriften und sogar den Tausch. Sie haben kein karitatives Motiv. Sie wollen mehr! Sie möchten durch den Aufbau einer kleinen, nichtkapitalistischen Nahrungsversorgung eine soziale Kettenreaktion auslösen, Leute anstiften, an einem nichtkommerziellen Netzwerk auf Gegenseitigkeit teilzunehmen.
Die Mitglieder des Karlshofs sind keine Eigentümer. Er wurde ihnen zur Verfügung gestellt, von der Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit (PAG), einem Netzwerk von Gemeinschaftsprojekten und einzelnen Leuten in Berlin und Brandenburg, das, in Kooperation und mithilfe einer Stiftung, Liegenschaften kauft und leihweise an geeignete Projekte vergibt. Der Karlshof ist eines dieser Projekte.
Den Sinn dieser außergewöhnlichen Versuchsanordnung hat ein Mitglied der Gruppe "Lokomotive Karlshof" treffend so formuliert: "Die Perspektive kann nicht sein, individuell die Schafe ins Trockene zu bringen, sondern auf kollektive Autonomie ausgerichtete Strukturen zu entwerfen, um sich gegenseitig zu unterstützen." In Zeiten sich verschärfender gesellschaftlicher Verhältnisse erregt das Experiment die Fantasie.
Der Karlshof liegt 90 Kilometer nördlich von Berlin, dreieinhalb Kilometer von der Stadt Templin entfernt. Es gibt eine einsame Bushaltestelle an der ehemaligen LPG. Weite Ebenen, abgeerntete steinige Felder, an den Rändern in der Ferne Wald und Buschwerk. Es sieht sehr nach Tristesse aus. Ein langer Sandweg, gesäumt von Peitschenlampen, führt an desolaten, grauen Stallungen und Wirtschaftsgebäuden vorbei zum Hof. Vor einem schmucklosen zweistöckigen Wohngebäude mit Satteldach, das unverkennbar aus LPG-Zeiten stammt, endet der Weg in einer ausgefahrenen Schleife.
Peter Just, einer der Aktivisten, erwartet Elisabeth und mich bereits und lädt zu einem Rundgang ein. Der 50-ha-Hof umfasst Äcker, Weideland, etwas Wald, Obst- und Gemüsegärten sowie die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Auf den weiträumigen Feldern werden Kartoffeln und diverse Getreidesorten biologisch angebaut. Wir besichtigen ein abgeerntetes Feld, auf dem noch einige kleine Kartoffeln liegen, und ein benachbartes, schütteres Sonnenblumenfeld, das demnächst abgeerntet werden soll zur Ölgewinnung.
Der Karlshof bekam eine Ölmühle vom Biohof Ulenkrug zur Verwertung der Sonnenblumen. Peter erklärt: "Man muss sie nach dem ersten Frost ernten. Gefroren hat es aber erst am 10. Oktober, dann war Regen. Jetzt sind sie zu feucht zum Ernten, dann war was mit der Hydraulik …Also an mir lag es nicht, dass sie immer noch … so! Deswegen hat es mich auch geärgert, dass ich hier ein bisschen ausgelacht wurde … Irgendwann mal haben wir Öl!"
Peter Just, landwirtschaftlich engagierter Bibliothekswissenschaftler, wurde 1975 in einem Dorf bei Göttingen als Lehrerssohn geboren. Nach dem Abitur studierte er am Osteuropa-Institut der FU Berlin Politikwissenschaften, nach vier Semestern Wechsel zu den Bibliothekswissenschaften an die Humboldt-Universität (Schwerpunkt Elektronische Medien). Nach dem Magister Arbeit in einem Kreuzberger Verlag.
2006 Einstieg ins NKL-Projekt "Lokomotive Karlshof" (NKL steht für "nichtkommerzielle Landwirtschaft"). Zeitgleich Gründung des Internetbuchladens reiseliteratur-online.de (Belletristik und Sachbuch zum jeweiligen Reiseland) und des neuen Ablegers links-lesen.de (dessen Erträge dann wiederum in die NKL fließen, in ein linkes Hausprojekt in Potsdam und einen antisexistischen Frauen-Info-Laden in Neuköln).
Elisabeth fragt: "Warum eigentlich ,Lokomotive Karlshof', hieß die LPG mal so?" Peter verneint: " ,Lokomotive', da gibt's einfach viele Assoziationen, zum Beispiel zur Arbeitersportbewegung, was in Verbindung mit der Landwirtschaft ja eine ironische Brechung ergibt, oder zu einer Politband aus dem Kreuzberg der 70er-Jahre und eben zur dynamischen Maschine, von der wir fasziniert sind, die ein Sinnbild für Produktivität war, für Güterverteilung und Kraft."
Während wir, begleitet von zwei sehr jungen und zutraulichen getigerten Kätzchen, über schweren, feuchten Ackerboden stapfen, erzählt Peter, dass sich momentan zwölf Erwachsene unterschiedlichen Alters - teils aus den neuen, teils aus den alten Bundesländern stammend - mit fünf Kindern auf dem Hof befinden. Zwei sind studierte Agrarwissenschaftler, die anderen kommen aus verschiedensten Richtungen, bis hin zur Ethnologie, für die meisten waren die Arbeiten gewöhnungsbedürftig. "Gut", sagt Peter, "wir können uns natürlich nicht komplett selber versorgen hier, es gibt finanzielle Nebenabhängigkeiten, logischerweise, und das macht manchmal Stress." Aber man hat den Versuch gewagt. Die Beteiligten üben das Kunststück, mit einem Bein im Geldkreislauf festgebunden zu sein und mit dem anderen im Freien Fuß zu fassen.
Nicht alle leben hier ständig, nicht alle sind Mitglieder des Netzwerks. Aber alle kommen aus linken Zusammenhängen und beteiligen sich auf unterschiedliche Art und Weise. Männer und Frauen teilen sich die Hausarbeiten. Jeder muss im Turnus putzen, kochen, Wäsche waschen. Die Reparaturen, Garten- und Feldarbeiten werden je nach Schweregrad, Neigung oder Sachkenntnis übernommen. Mit dem Nachbarbauern hat man ein sehr gutes Verhältnis, man hilft sich gegenseitig, er leiht fehlende Gerätschaften aus.
Eine Schar von Leuten leistet ab und an solidarische Hilfe bei diversen Arbeiten. Besonders zur Kartoffelernte im Herbst kommen für 14 Tage zahlreiche Netzwerkhelfer und Freunde angereist. Sogar die Kinder des benachbarten Waldkindergartens helfen, und auch Kinder aus der Freien Schule Templin, die auch Kartoffeln erhält. Man ist mit verschiedenen landwirtschaftlichen Kooperativen in gegenseitiger Hilfe und, wie es Peter formuliert, "bedürfnisorientiertem Austausch" verbunden. "Einsam und verlassen sind wir hier nicht", sagt Peter und lacht.
Die Gebäude der ursprünglichen bäuerlichen Hofstelle bilden ein Ensemble, sind aus rotem Backstein und stehen ein wenig abseits vom Wohnhaus. Im lang gestreckten ehemaligen Stall mit durchgehendem Dachboden sind unten verschiedene Werkstätten eingerichtet. Oben unter dem alten Gebälk wurden zahlreiche Möglichkeiten zur Unterbringung der Helfer und Gäste geschaffen, zum Schlafen, Feiern und Spielen. "Im Sommer und Herbst waren eine Menge Leute da", erklärt Peter, "die müssen natürlich ordentlich versorgt werden." Er zeigt uns die Sommerküche mit Terrasse nebst Backofen. Auch ein ästhetisch sehr gelungenes solarbetriebenes Badehaus aus Ziegeln und Holz sowie zwei Komposttoiletten mit Rädern stehen zur Verfügung.
Zwei schmale Schweine
Das ehemalige Bauernhaus - in seinen Kellerräumen lagern die Kartoffelvorräte des Karlshofs bei idealen acht Grad und guter Lüftung - wird seit Längerem saniert. Es soll als Gemeinschafts-und Seminarhaus dienen. Momentan wird eine Heizung eingebaut. Zwei sichtbar gut gelaunte Leute, ein Schlosser und eine Schlosserin - beide haben Umwelttechnik studiert -, schneiden vor dem Haus die Rohre und Gewinde zurecht. Sie sind zur solidarischen Hilfe auf den Hof gekommen und stellen dem Netzwerk ihre handwerkliche Leistung gratis zur Verfügung. Wie auch die anderen reisenden Handwerkerinnen und Handwerker, die hier im Sommer umfangreiche Steinmetz-, Maurer- und Zimmermannsarbeiten gemacht haben, das originelle Badehaus errichteten und einen künstlerisch gestalteten steinernen Brunnen. Eine Schmiedin war da und hat Maueranker geschmiedet und eingezogen. Der Karlshof muss für all das nur die verbauten Materialien bezahlen.
Auch die Tiere scheinen sich wohlzufühlen. Es gibt ein paar Schafe, eine Schar Gänse, die aufrecht und aufgeregt dahinstrebt, und bedachtsam scharrende und pickende Hühner in Braun und Weiß, nebst Hahn. Zwei schmale Schweine mit dunklen Tupfen, Charles und Camilla, durchfurchen ihr Gehege und heben freundlich die Köpfe, als wir näher treten. "Sie bekommen gedämpfte Kartoffeln mit Gerste und Erbsen. Der Dämpfer war ein Geschenk aus dem Netzwerk", erklärt Peter.
Im großen Garten werden Salat und Gemüse gehegt und geerntet, es wächst reichlich für alle Bewohner und auch für die Gäste. Und für den Winter werden Marmeladen, Sirupe, Gelees, Chutneys hergestellt und natürlich Sauerkraut. Unter dem übervollen Birnbaum liegen verschwenderisch hingebreitet große, gelbe Birnen im Gras. Es wirkt wie Hohn und Spott. Ohne diese Eigenschaft und Gunst der Natur, die ja erst die Möglichkeit des Mehrwerts bietet, wären nie die weltbeherrschenden Systeme entstanden.
Die beiden kleinen Katzen begleiten uns immer noch unverdrossen durch ihr zukünftiges Jagdrevier. Peter zeigt uns einen alten Belarus-Traktor aus Minsk und einen DDR-Traktor namens "Fortschritt". Er erzählt: "Wie ich den angemeldet habe, meinte die Frau, die da im Kostüm hinter dem Tresen saß: ,Ach, der alte ,Fortschritt', den durfte ich früher nie fahren. Das war der Männertraktor, und der ,Belarus' war der Frauentraktor.' " Er lacht, zeigt auf Egge und Kultivator und führt uns dann in die teils desolaten LPG-Gebäude. Zeigt einbrechendes Dachgebälk und große Hallen, die als Remise dienen und als Lagerhalle für das Saatgut, für Getreide, Hülsenfrüchte und die Sonnenblumenkerne.
Es gibt teils museale Sortiermaschinen für Hülsenfrüchte und Getreide und den DDR- Mähdrescher namens "Hamster". Sogar eine rustikale Holztheke mit Barhockern ist da, für die großen Sommerfeste. In hängenden weißen Gewebesilos lagert hier nun mäusesicher die Ernte. Ein defekter Traktor steht in der picobello geordneten Werkstatt. "Es gibt einen Maschinenbauer, der kommt regelmäßig vorbei, zum Glück", sagt Peter.
Die Wahnwitzigkeit des Unternehmens wird angesichts der alten und reparaturbedürftigen Gebäude und Arbeitsgeräte, des Dieselpreises und der Materialkosten besonders deutlich. Spenden könnten hier gute Dienste leisten. Also für Anleger mit Prinzipien das ideale Objekt. Garantiert boni- und renditefrei!
Bei einem wohlgeratenen Spaghettiessen nebst hofeigenem Salat mit kandierten Walnüssen und kühlem, naturtrübem Apfelsaft lernen wir auch einige andere Hofbewohner flüchtig kennen. Sie sind wortkarg, scheinen aber freundlich. Danach bereitet unser Gastgeber Kaffee zu und bittet uns ins ruhige Wohn- und Spielzimmer. Es bietet Ausblick auf ein weites Feld und hat - wie alle Räume dieses Hauses - einen soliden Berliner Kachelofen.
"Ihr könnt gern auch noch Apfelsaft haben", sagt Peter , "der ist übrigens ein Beispiel für das, was ich bedürfnisorientierten Austausch nenne: Von einer Kooperative bekommen wir Apfelsaft, wenn wir welchen brauchen, und die wiederum kommen, wenn sie Kartoffeln brauchen. Es wird unabhängig voneinander produziert, aber nichts gegengerechnet. Ein sehr angenehmes Verhältnis.
Und jetzt erzähle ich einfach mal: Ich bin damals 2006 dazugestoßen über Freunde. Ich dachte, es ist Zeit, was anderes zu machen, es ist Zeit, mit den Gewohnheiten zu brechen, auf diesen Geldfluss da und auf den Äquivalententausch zu verzichten und nach Alternativen zu suchen. Zu schauen, wie wir anderweitig unsere Bedürfnisse befriedigen können, wie wir zu einer bedürfnisorientierten kollektiven Organisierung kommen, zu einer sozialen Vernetzung gegenseitiger Unterstützung … zu praktizierter Solidarität. Wir hatten uns alle kritisch mit der kapitalistischen Warenproduktion und dem Verwertungszusammenhang im Allgemeinen auseinandergesetzt, insbesondere mit den Bedingungen und Absurditäten der Nahrungsmittelproduktion im globalisierten Kapitalismus."
Kartoffel-Euphorie
Peter redet ernst, manchmal stockend, wenn er ein Wort auslässt, sagt er manchmal einfach nur "so", oder er lächelt. "Und dann haben wir einfach angefangen und haben uns in die Praxis gestürzt. Es ist zwar oft hart, aber das Schöne für mich hier besteht darin, es ist einfach was Handfestes, was Praktisches, bei dem was Sinnvolles rauskommt. Kartoffeln sind toll! Wir erzeugen ein Grundnahrungsmittel, wir erzeugen es ökologisch. Ich kann es zusammen tun mit Menschen, die ich mag. Und man hat hier genug Zeit, Erfahrungen zu machen. Zu lernen, wie mache ich was, wann und warum. Also man setzt sich einfach Ziele und guckt, wie sie erreichbar sind. Wir machen jetzt das vierte Jahr Kartoffeln. Und wir wurden jedes Jahr besser.
2006 ist die NKL ja in Gang gekommen, als Versuch, eine alternative Wirtschaftsform zu praktizieren, jenseits vom Markt, mit dem Ziel, sich so weit wie möglich vom Geld zu lösen. Sich anders zu vergesellschaften, denn darum geht es. Es gab von Anfang an relativ viel Feedback von Berlin, auch einen größeren Interessentenkreis. Wir machten damals für diese Idee Propaganda. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe ,Die globalisierte Kartoffel', im Café Morgenrot in Berlin, wurde das Konzept vorgestellt. Auch im Café der Agrarwissenschaftler in der Humboldt-Uni und später bei der Vorbereitung des G-8-Gipfels. Im Frühjahr 2006 jedenfalls schickten wir unseren ,Aufruf zur Selbstorganisierung' an Hausprojekte, Landprojekte, WGs und politische Gruppen. An 150 bis 200 Menschen erst mal. Wir kamen auf einen Bedarf von etwa 4,15 Tonnen Kartoffeln, die wir auf 0,7 ha produzieren wollten. Bald schon gab es ein gemeinsames Kartoffelkäferablesen. Und dann, im September 2006, der große Augenblick, die Ernte! Es kamen überraschend viele Helfer. 4,5 Tonnen wurden geerntet.
2007 vergrößerten wir die Anbaufläche. 8,5 Tonnen war die Ernte. 2008 waren es schon 15 Tonnen auf 1,5 ha. Und zum ersten Mal hatten wir auch alle Saatkartoffeln aus eigener Produktion, die mussten wir ja anfangs kaufen. Also wir haben zwei Tonnen Saatkartoffeln rein getan und 15 Tonnen geerntet. Und 2009 haben wir auf 2 ha 18 Tonnen geerntet. Das ist doch eine recht gutes Ergebnis, dafür, dass wir keinen Dünger in den Boden geben?!
Aber es ist natürlich nicht das Ziel, immer mehr zu ernten. Wir erheben den Bedarf, und danach produzieren wir. Wir fragen im Netzwerk herum: Wer braucht wie viele und welche Kartoffeln? Der Bedarf pro Nase im Jahr liegt ja so bei 50 bis 55 kg." [Um 1900 war es fünfmal so viel; Anm. G.G.] "Wir haben inzwischen verschiedene Kartoffelsorten, festkochende, mittelfeste und mehlige. Sogar rote. Und die werden dann mit dem Hänger nach Eberswalde, Potsdam und Berlin gebracht und eingelagert in Kartoffelkellern; das sind Orte, wo du hingehen und deine Kartoffeln abholen kannst. In Berlin ist es jetzt nicht mehr im Bethanien. Wir machen neuerdings das Kartoffelcafé in Kreuzberg, in der Admiralstraße 17, im Laden der KPD/RZ". [Hierbei handelt es sich um die Spaßpartei "Kreuzberger patriotische Demokraten/realistisches Zentrum"; Anm. G.G.)
"Es gibt jetzt neben Kartoffeln auch noch Weizen, Buchweizen, Dinkel und Erbsen vom Karlshof. Und neuerdings sogar Brot. Das Café ist jeden zweiten Sonntag für NKL-Mitglieder geöffnet. Interessierte Menschen sind natürlich herzlich eingeladen und können sich ganz unverbindlich alles erst mal aus der Nähe angucken."
Wir möchten wissen, was denn eigentlich genau von den Nutznießern der Kartoffeln erwartet wird. "Also der Beitrag, den wir erwarten, der wird nicht definiert, wir hoffen auf gute Einfälle. Das kann zum Beispiel Mithilfe sein im Kartoffelcafé. Es gibt eine Menge Möglichkeiten der Mitarbeit und Hilfe. Je nach Zeit und Fähigkeit kann die sporadisch sein oder auch regelmäßiger. Es gibt Leute, die sagen, okay, wir sind Mitglied im Netzwerk. Und es gibt Leute, die machen halt einfach nur so mit. Wir informieren im Internet über den Verteiler, was wir konkret brauchen. Also das kann praktische Hilfe sein, Marmelade kochen, was mauern, oder wenns ein Ingenieur ist zum Beispiel, der kann mit statischem Wissen helfen, mit einer einfachen Konstruktionsskizze für den Bau von einem Silo.
Sprit für den Traktor
Wir brauchen vielfältige Sachen, auch gute Tipps oder Beratung von einem Netztechniker. Aber natürlich kann sich auch jemand an den Kosten beteiligen, wir brauchen ja Sprit für den Traktor, Material und Ersatzteile, müssten einige arbeitserleichternde Geräte anschaffen, das wird manchmal recht stressig. Vor anderthalb Jahren haben wir eine Spendenkampagne gemacht und Geld gesammelt für den Traktor. Davon haben wir den "Fortschritt" gekauft, den ihr vorhin gesehen habt. Aber wir möchten da eigentlich gar keinen Druck ausüben.
Und die Kartoffeln, die wir verschenken, sollen auch keine Verpflichtung sein, keine Vergütung für vergangene oder künftige Dienstleistungen. Wir wollen eben keinerlei Äquivalententausch, wir wollen nicht den Wert von Kartoffeln oder Leistungen taxieren und verrechnen müssen. Wozu? So müssen wir auch nicht immerzu gucken: Ist das jetzt gerecht oder ungerecht? Wurden wir übervorteilt? Das ist wahnsinnig erleichternd, wenn man das alles mal hinter sich hat!
Es gibt auch Leute, die sich Kartoffeln abholen, ohne direkt etwas für uns oder das Netzwerk zu tun. Es ist einfach so, es gehört mit zum Prinzip der Selbstorganisation, dass man umdenkt und sich überlegt: Was kann ich tun? Das und das wird vielleicht gebraucht, das und das wäre jetzt wichtig, die und die Bedürfnisse hat der andere. Anfangs hatten die Kartoffeln ja so eine Agitpropfunktion, inzwischen sind sie auch Symbol und Beweis dafür, dass es geht, und eine Aufforderung dazu, dass sich andere Produktionsbereiche gründen und selbstständig im Netzwerk engagieren. Das passiert auch. Jetzt hat sich gerade eine nichtkommerzielle Brotbackgruppe gegründet, die aus unserem Getreide Sauerteigbrote gebacken hat, sodass zum ersten Mal auch Brot verteilt werden konnte im Kartoffelcafé."
Auf die Frage, ob er uns den theoretischen Ansatz noch mal genauer erläutern kann, sagt er abwehrend und entschieden: "Also ich bin jetzt keiner, der so beschlagen ist in Theorie, der diese Mehrwertsache vorträgt, da bin ich der Falsche. Aber eins weiß ich genau, ich halte eine Produktion um der Produktion willen, die nur produziert, um Geld zu machen, für unsinnig. Und ich halte das derzeitige Wirtschaftssystem für falsch, für ökologisch und sozial schädlich. Punkt! Das treibt mich schon um, dass jeder sechste Mensch hungert und jede Minute so und so viele Kinder sterben an Hunger. Es muss doch jedem klar sein, dass diese Art des Wirtschaftens mörderisch ist. Und da finde ich, dass unser wertkritischer Ansatz gut ist, dass wir in kleinem Maßstab aktiv werden, um einfach was zu versuchen, um die Dinge zu ändern.
Eine Halle stürzt ein
Ich persönlich jedenfalls bin mit der Theorie nicht weitergekommen. Ich löse das für mich lieber praktisch, auf so einer solidarisch-menschlichen Ebene, und ich finde diese Versuche - auch von euch jetzt -, dem eine theoretische Grundlage abzuverlangen, echt nicht gut! Wir haben es ja immerhin innerhalb von vier Jahren geschafft, ein ziemlich autarkes kleines Wirtschaftssystem mit einem sich entwickelnden Netzwerk kollektiver Subsistenz aufzubauen. Und das ist nicht mehr theoretisch abgehoben, sondern eine ganz handfeste Geschichte.
Wir kommen zurecht. Sicher, wir haben auch die klassischen kollektiven Organisations- und Kommunikationsprobleme, wie andere auch. Wir haben einmal in der Woche eine Art Plenum, wo alles Wichtige besprochen wird. Es gibt natürlich auch Themen, wo keiner so richtig … unbeliebte Themen zum Beispiel Verantwortung für die Gebäude. Entweder wir übernehmen die … oder wir müssen eben sagen, gut, lasst diese Halle einstürzen. Bums! Aus! Dann haben wir es eben gemeinsam nicht geschafft. Und es gibt manchmal so Sachen, da fragst du dich: Warum mache ich mich hier zum Hampel? Aber wir kriegen es immer irgendwie halbwegs hin, würde ich mal sagen. Und ich will ja auch was anderes als nur Harmonie. Ich will auch was umsetzen.
Gut, während ich hier auf dem Acker herumfahre, haben andere an der Uni promoviert. Es ist schon ein sozialer Abstieg, wenig Geld, wenig Sicherheit, kein sozialer Status. Das ist vielleicht der Preis, den man in dem Sinne bezahlen muss. Aber das ist eine Sache der Perspektive. Denn wenn ich mir anschaue, wie es mir geht, dann würde ich sagen, ich fühle mich wesentlich besser hier. Es gefällt mir, draußen zu arbeiten, es gefällt mir, wofür ich arbeite. Und diese Freiheit, einfach etwas machen zu können, die habe ich in diesem Kontext mehr als anderswo. Zum ersten Mal bin ich nicht mehr so frustriert, nicht mehr so machtlos."
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